The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
berührten, und als sie ihr Gesicht schief legte, um in seines aufzuschauen, trafen ihre Hutkrempen fast aufeinander. Sie fühlte sich unfassbar tapfer, und es gefiel ihr. Sie hörte ihn einatmen. Seine Pupillen weiteten sich, und einen Moment schien er zu erstarren, aber er wich nicht zurück.
»Leon«, sagte sie sanft. »Ich gehe zurück in dieses Gefängnis und komme vielleicht nie wieder raus. Ich will etwas Brot.«
Seine klaren, blauen Augen verengten sich, und dann sah sie ihn seine Lippen befeuchten. Sie hatte Schwierigkeiten, zu atmen. Es kam ihr in den Sinn, dass er sehr schön wäre, wenn er sich nur ein Lächeln gestattete, und dann, wie von selbst, fühlte sie, wie ihre Lippen sich auffordernd rundeten.
Leon wich einen halben Schritt zurück, schloss die Augen und nickte.
Schamesröte schoss ihr ins Gesicht. Ihre Wangen brannten lichterloh. Sie hatte tatsächlich einen Augenblick lang geglaubt, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Und er hatte gnädigerweise so getan, als könne er für den Moment vergessen, dass eine Hälfte ihres Gesichts entstellt war. Vor lauter Demütigung wurde ihr schwindlig.
»Vergiss es«, murmelte sie.
»Nein«, sagte er, und obwohl er ihrem Blick auswich, griff er sie fest bei der Hand und zog sie in die Gasse zu der Bäckerei. Sie traten ein. Die warme Luft war schwer von Hefe, ein köstlicher, heilsamer Duft umschmeichelte ihr Gesicht, füllte ihre Lungen, und ein Teil ihrer Scham fiel von ihr ab.
»Einen Laib Schwarzbrot, Bruder«, sagte Leon und ließ Gaia los.
Die Blicke des Bäckers zuckten von ihm zu Gaia in ihrer grauen Gefängnisuniform und wieder zurück, verrieten jedoch nicht, was er dachte. Gaia massierte ihre Handgelenke, sah hinter die hohe Theke und fand, wonach sie gesucht hatte: Dort stand ein riesiger Steinbackofen, schwarz wie die Nacht. Während der Bäcker den kleinen, krustigen Laib in braunes Papier wickelte, prägte sie sich sein Gesicht mit der scharf geschnittenen Nase und den buschigen weißen Brauen ein. Seine Arme waren muskulös, seine weiße Schürze mit getrockneten Teigstückchen verklebt. Als er Leons Münze entgegennahm, nickte er kurz und warf sie in ein Kästchen hinter der Theke.
»Wäre das alles, Bruder?«, fragte der Bäcker. Seine Stimme war voll und rund.
»Ja. Danke«, sagte Leon.
»Ich diene der Enklave«, sagte der Bäcker.
»Wie ich«, sagte Leon.
»Und ich«, flüsterte Gaia.
Der Bäcker warf ihr einen durchdringenden Blick seiner kleinen, schwarzen Augen zu. Dann trat er einen Schritt zurück und legte sachte eine Hand auf die Ziegel seines Ofens. Nichts weiter. Es war eine winzige, natürliche Geste, doch als Gaia sie sah, spürte sie ihr Herz gegen ihre Rippen schlagen. Es war eine Botschaft, ein Zeichen, und als sie seinem Blick wieder begegnete, nickte er unmerklich. Sie wandte sich rasch ab und trat aus dem Laden, bevor Leon etwas bemerkte.
Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, doch sie wusste, dass der Bäcker ihr nachsah. Er war Dereks Freund. Sie hatte seinen Namen vergessen, doch sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte.
Leon reichte ihr den kleinen Laib Brot. »Hast du eine Tasche?«, fragte er. »Einfach reinzumarschieren und jeden sehen zu lassen, dass ich dir etwas gekauft habe, ist wohl keine gute Idee.«
Sie nahm einen großen Bissen und stöhnte fast, so gut schmeckte das reine, warme Brot. Automatisch bot sie auch ihm davon an. Seine Brauen hoben sich überrascht. Rasch blickte er die enge Gasse hinunter, doch sie waren allein. Er brach sich ein Stückchen ab und biss mit seinen weißen Zähnen hinein.
Gaia verstaute das restliche Brot im Ärmel ihres Kleids. Würden die anderen nicht Augen machen, wenn sie mit einem echten, frischen Brot in Zelle Q zurückkam? Es war genug, dass sie alle einen Bissen haben konnten.
Leon schluckte, und sein Gesicht war ernst und irgendwie traurig. »Denk bitte daran«, sagte er. »Kooperiere mit ihnen.«
»Wie bald sollte ich mit diesem Verhör rechnen?«
»Bald. Morgen oder übermorgen.«
Sie leckte sich mit der Zunge den letzten Brotgeschmack von den Zähnen. Es würde ihr nicht viel nützen, den Bäcker gefunden zu haben, wenn sie tief im Gefängnis in einem Verhör steckte. Sie musste bald zu ihm. Leon schritt zielstrebig zurück zur Straße, und Gaia eilte neben ihm her.
»Etwas verstehe ich nicht«, sagte sie. »Weshalb bist du bei der Wache? Wenn dein Vater der Protektor ist, weshalb dienst du dann der Enklave wie jemand von draußen, der nie
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