The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
stürzte eines Nachts aus ihrem Schlafzimmerfenster und brach sich das Genick.«
Gaia fiel ein, wie Leon sie gewarnt hatte, nicht zu nahe an die Klippe zu gehen. Sie fragte sich, ob er da an seine Stiefschwester gedacht hatte. »Nach Fionas Tod sah man so gut wie nichts mehr über die Familie des Protektors im Tvaltar«, erinnerte sich Gaia. »Genevieve. Ich erinnere mich an ein Bild von ihr, wie sie auf der Beerdigung geweint hat.«
Brooke nickte, und Cotty brummte mitfühlend. »Was für ein Unglück, diese ganze Sache. Besser, man redet nicht mehr davon.«
»Aber was hat Leon nun getan, dass man ihn verstieß?«, drängte Gaia. »Was ist ein Verbrechen gegen den Staat?«
Die Frauen warfen sich nervöse Blicke zu, doch keine sprach, bis Myrna ihre flachen, schwarzen Augen auf Gaia richtete. »Das ist ein genetisches Verbrechen«, sagte sie.
»Was heißt das?« Sie sah zu Cotty und Brooke.
»Dasselbe, was man uns vorwirft«, erklärte Cotty.
»Wie kann Leon durch einen Gentest gefallen sein oder bei einer Abtreibung geholfen haben?«, fragte Gaia verwirrt.
Cotty und Brooke antworteten nicht. Gaia ließ den Blick über die Gesichter wandern, bis sie schließlich zu Myrna gelangte. »Er hat mit seiner Tante geschlafen«, sagte diese.
»Nein«, sagte Gaia bestürzt.
Myrna zuckte die Achseln und blickte wieder in ihr Buch. »Das habe ich zumindest gehört.«
Gaia wandte sich flehentlich an Cotty. »Ist das wahr?«, flüsterte sie.
»Nein«, sagte Cotty und warf Myrna einen finsteren Blick zu. »Das war bloß ein Gerücht. Es gab alle möglichen verrückten Gerüchte. Ich bin sicher, dass nicht die Hälfte davon stimmt. Seine Tante Maura ist zehn Jahre älter als er und eine sehr vornehme, verheiratete Frau. Ich bin mir sicher, sie würde so etwas nie tun. Myrna, du solltest es besser wissen und das Mädchen nicht so quälen.«
Myrna verdrehte nur die Augen, als ob sie sich schrecklich langweile.
»Aber was ist denn nun passiert?«, fragte Gaia.
»Nun, das weiß ich nicht genau. Niemand weiß das«, sagte Cotty. »Wir könnten tratschen, bis wir blau sind, aber keiner kennt irgendwelche Fakten. Ehrlich gesagt fand ich die ganzen Gerüchte ziemlich widerlich. Eine Weile klang es so, als ob er mit jedem Mädchen in der Bastion geschlafen hätte – was offensichtlich nicht stimmte. Wie auch immer, er nahm den Mädchennamen seiner Mutter an, Grey, und trat der Wache bei, und viel mehr wissen wir auch nicht.«
Gaia wickelte weiter blaues Garn um ihre Finger und überlegte. Sie musste damals zwölf oder dreizehn gewesen sein. Ihre Eltern hatten nie viel auf Gerüchte gegeben, aber erwähnt hatten sie es sicher, und die alte Meg bestimmt auch, aber es war wohl nicht bei ihr hängen geblieben. Sie hatte gewusst, dass Fiona gestorben war, aber Leons neuer Nachname war ihr nicht aufgefallen. Vielleicht hatte die öffentliche Trauer den Skandal auch verdrängt.
Jetzt grübelte sie über das wenige nach, das sie wusste. Die schmutzigen Einzelheiten betrübten sie. Dass Leon mit seiner Tante geschlafen haben sollte, konnte sie nicht glauben. Es würde seiner ganzen Art zuwiderlaufen. Sie glaubte es nicht, aber irgendetwas musste passiert sein. Er war in Ungnade gefallen, und er war der Meinung, es zu verdienen.
Das war der Schlüssel. Ihre Hände, die das Wollknäuel hielten, kamen zur Ruhe, und sie ließ ihren Blick hoch zu den Fenstern schweifen. Leon glaubte, etwas Unrechtes getan zu haben, etwas so Böses, dass es den Ausschluss aus seiner Familie rechtfertigte. In seinem neuen Leben befolgte er die Gesetze der Enklave anstandslos, und zwar gegen seine Natur. Er hatte sich entschieden, seine eigenen Moralvorstellungen aufzugeben. Er hatte sich entschieden, herzlos zu sein.
Gaia merkte, dass Myrna sie mit müden Augen betrachtete. Sie fühlte eine kalte Hand nach ihrem Herzen greifen und erinnerte sich an die Warnung der älteren Frau: Sie werden dich benutzen. Und ihn.
»Gib diesem Ort genügend Zeit, und er wird sogar dich zerbrechen«, sagte Myrna sanft.
Gaia stand auf, reichte Cotty das Wollknäuel zurück, und ging in den Schlafraum.
Nach dem Abendessen, die anderen waren draußen im Hof, nähte Cotty Gaia eine Tasche in die Innenseite ihres Kleids. »Für den Fall, dass du wieder Brot bekommst«, sagte Cotty, strich den Stoff glatt und reichte Gaia ihr Kleid zurück. »Oder sonst etwas. Du könntest kleine Leckereien für uns hereinschmuggeln.«
Gaia lächelte und dankte ihr, doch sie bezweifelte,
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