The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
der Schuldgefühle nicht erwehren, die an ihr nagten, seit sie erkannt hatte, wie grundsätzlich falsch die Babyquote war.
Ihre Eltern waren ihr ein einziges Rätsel, und sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen und den Unterhaltungen, die sie mit ihrem Vater über ihre Brüder geführt hatte, etwas mehr Aufmerksamkeit widmen. Offensichtlich hatte er es vermieden, mit ihr über das Band zu sprechen, über die Sommersprossen aber hatte er gesprochen. Ihre Eltern mussten viel schlimmere Gewissensbisse wegen ihrer Söhne gehabt haben, als sie Gaia je eingestanden hatten. Oder sie hatten wirklich geglaubt, es sei richtig, sie vorzubringen, das Beste für ihre Kinder. Konnte denn beides wahr sein?
Sie überflog den restlichen Code, bis das Jahr auf 2390 wechselte, und fand die Eltern, die zu Leons Geburtstag passten: Derek Vlatir und Mary Walsh. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück, um ihren Nacken zu entspannen, während sie zu verarbeiten versuchte, dass Leon Dereks Sohn war. Die Vlatirs hatten wahrscheinlich noch im dritten westlichen Sektor gelebt, als Leon geboren wurde. Wenn Leon nicht vorgebracht worden wäre, wäre er außerhalb der Mauer als Sohn eines Bäckers aufgewachsen. Leon wäre ein völlig anderer Mensch geworden: vielleicht sogar einer, dem man vertrauen konnte.
Es war dunkel, als Gaia den Code endlich entschlüsselt hatte, ihre Suppe lange gegessen; aber als die Sonne unterging, war automatisch eine einzelne Glühlampe an der Decke angegangen. Wenn sie lange Zeit stillhielt und sich konzentrierte, ging das Licht aus. Wenn sie einen Arm bewegte, ging es wieder an. Ein kleines weißes Kästchen mit einem stecknadelkopfgroßen roten Licht war in einer der oberen Ecken des Raumes angebracht. Sie vermutete, dass es sich dabei um den Sensor handelte.
Sie stand vor dem Fenster und schaute auf die stille Stadt hinab. Ihr müder Blick folgte den Laternen, die sich wie eine Allee von der Bastion herabzogen. Niemand war auf den Straßen. Die Mädchen in Rot waren nicht wieder aufgetaucht. Die Stille roch wie die Steine des Platzes unter ihr.
Leon war nicht zurückgekehrt.
Wieso auch? , dachte sie.
Sie berührte die glatte Glasscheibe und fragte sich, ob sie Derek je wiedersehen und ihm erzählen würde, was aus seinem Sohn geworden war. Dass sein Sohn …
Gaia schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen das kühle Glas. Sie wusste nicht, was sie von Leon halten sollte, aber immer, wenn sie an ihn dachte, spürte sie, wie sich alles in ihr zusammenzog. Sie war nicht nur wütend auf ihn. Sie war auch enttäuscht. Sehr sogar. Es zählte nicht, dass er einfach seine Arbeit tat, wie jeder gute Soldat. Sie hatte gedacht, sie könnte ihm vertrauen. Wie dumm sie gewesen war.
Sie ließ sich auf das Bett sinken und betrachtete das Durcheinander von Papier auf dem Schreibtisch. Ich sollte alles zerreißen und die Toilette hinabspülen , dachte sie. Das würde ihnen zeigen, was sie davon hielt, zu kooperieren. Doch die Geste würde nicht viel nützen, ohne jemanden, der sie sah.
Sie barg ihr Gesicht in den Händen und rieb sich die Augen.
Als es leise an die Tür klopfte, fuhr sie auf, und das Licht ging an. Sie musste eingeschlafen sein. Die Tür öffnete sich, und ihr Herz tat einen erwartungsvollen Sprung. Als sie sah, dass es Sergeant Bartlett mit einem weiteren Tablett war, tat sie, als hätte sie keinesfalls auf Leon gehofft, griff nach dem Tablett und bemerkte dann den Blick des Sergeants.
»Hast du’s herausgefunden?«, fragte er.
»Vielleicht. Schwer zu sagen«, sie nahm einen Bissen Brot. Das Essen kam hier zu seltsamen Zeiten. »Wie spät ist es?«
»Gegen Mitternacht. Kannst du mir sagen, wer meine Eltern sind?«, fragte er.
Sie hörte auf zu kauen, als sie einen Einfall hatte. Sie schluckte. »Weißt du etwas über meine Mutter?«
Er sah verwirrt drein. »Nein. Ist sie hier? In der Bastion?«
»Ich nehme es an. Ich will sie finden«, sagte sie. »Wie wichtig ist es dir, deine Eltern zu kennen? Genug, um mich rauszulassen?«
Der Sergeant lehnte seine breiten Schultern gegen die Tür und verschränkte die Arme. Seine Muskeln zeichneten sich unter dem schwarzen Stoff ab. »Das wäre zu gefährlich«, sagte er.
Sie stieß ein trockenes Lachen aus. »Für dich oder für mich?«
Er schien darüber nachzudenken, dann fuhr er sich mit einer Geste durch das blonde Haar, die ihn sehr jung aussehen ließ. »Sowohl als auch«, sagte er. »Es geht nicht. Glaub mir. Um dir zu helfen,
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