The Homelanders, Band 1: The Homelanders - Stunde Null (Bd. 1) (German Edition)
Beth. Die Ziegelsteine waren Teil des großen Finales, und ich wollte, dass sie es gut sehen konnte.
Während ich mit den Steinen beschäftigt war, verebbte der Applaus. Dann herrschte nervenzerreißende Stille, und man hörte nur, wie ich die Steine auf dem Boden zurechtrückte. Als ich fertig war, musste ich wieder zurück hinter die Bühne, um den dritten Stein zu holen. Ich kam hinaus, und die Leute begannen, unruhig in ihren Sitzen hin und her zu rutschen und miteinander zu flüstern.
Sie langweilten sich.
Ich spürte, wie mir ein Schweißtropfen den Rücken hinunterlief – dabei hatte ich noch nicht einmal mit meiner Kata begonnen. Dann hörte ich, wie jemand – vermutlich Josh Lerner – rief: »Mach sie fertig, Harley-Charlie!« Und alle lachten. Ich lachte mit, aber ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg.
Ich zwang mich, nicht zu Beth zu schauen, um zu sehen, ob auch sie lachte. So cool wie möglich legte ich den dritten Ziegelstein quer über die anderen beiden. Dann ging ich zu dem Pult, an dem vorher Mr Woodman gestanden hatte. Ich musste mich räuspern, bevor ich sprechen konnte. Verstärkt durch das Mikrofon hörte es sich an wie Donnergrollen. Noch mehr Gelächter, noch mehr Röte auf meinen Wangen und noch ein Schweißtropfen, der mir den Rücken hinunterlief.
Als ich endlich ein paar Worte herausbrachte, konnte ich das nervöse Zittern in meiner Stimme hören. Ich hoffte, dass es niemandem auffiel.
»Ich werde eine Kata zeigen«, sagte ich. »Das ist eine Art inszenierter Kampf, bei dem man sich vorstellt, dass man von mehreren Leuten angegriffen wird und seine Verteidigungstechniken anwendet. Auf diese Art übt man seine Techniken in der Bewegung, damit die Muskeln lernen, wie sie ausgeführt werden müssen. Wenn man diese Techniken dann jemals im richtigen Leben anwenden muss, weiß der Körper automatisch, wie es geht. Man muss gar nicht mehr darüber nachdenken. Gut, ich zeige jetzt also die Tiger-Kata . Sie heißt so, weil dabei sehr kraftvolle Schlagtechniken angewendet werden, die wir in meiner Karate-Schule Tiger-Techniken nennen.«
Sicherheitshalber räusperte ich mich noch einmal ins Mikrofon, machte wieder das donnernde Geräusch und bekam noch ein paar Lacher.
Ich zwang mich, den Schutz des Pults zu verlassen, und ging in die Mitte der Bühne. Ungefähr tausend extrem peinliche Szenarien schossen mir durch den Kopf, tausend verschiedene, fürchterliche Arten, mich für ewige Zeiten unmöglich zu machen. Vielleicht würde ich von der Bühne stürzen, vielleicht würde ich mir den Fuß verstauchen und herumhüpfen wie ein Comic-Hase, vielleicht würde meine Hose runterrutschen, oder noch besser: Sie würde runterrutschen, während ich herumhüpfte …
Ich verdrängte diese Gedanken und nahm die Ausgangsstellung ein: Füße zusammen, Arme vor dem Körper angehoben, Hände kurz unter dem Kinn zusammengelegt. Meine rechte Hand war zur Faust geballt, um die Kraft des Yang , des männlichen Prinzips, zu symbolisieren. Die linke Hand blieb geöffnet und umschloss die Faust, um die Zurückhaltung des Yin , des weiblichen Prinzips, anzuzeigen. Kraft durch Selbstdisziplin, darum geht es beim Karate.
Ich blieb eine lange Sekunde so stehen. In der Aula war es ganz still geworden. Niemand rutschte mehr auf seinem Sitz herum, niemand flüsterte, und auch Josh Lerner machte keine blöden Witze mehr. Sie waren interessiert, das merkte ich.
Nach einem weiteren tiefen Atemzug führte ich die Begrüßung aus.
Sofort geschah etwas Wunderbares, etwas Erstaunliches. Jede Kata beginnt mit einer Begrüßung. Zuerst kommt die Verbeugung und dann eine Abfolge von Bewegungen, die mit stark angespannten Muskeln ausgeführt werden, wobei der Atem in einem langen, lauten Zischen durch den geöffneten Mund entweicht. Diese Atmung nennen wir Feuerspeiender Drache. Damit soll die gesamte Aufmerksamkeit gebündelt werden, sodass alle überflüssigen Gedanken aus dem Kopf verschwinden und sich die gesamte Energie auf die Stellung richtet. Und das Wunderbare und Erstaunliche war, dass genau das passierte. In dem Augenblick, als ich meine Bauchmuskeln anspannte und den Drachenatem ausstieß, strömte auch sämtliche Nervosität aus mir heraus. Plötzlich verschwendete ich keinen einzigen Gedanken mehr, nicht einmal auf Beth Summers. Plötzlich war da nur noch die Kata – die Stellung – und ich wusste, dass ich sie ohne nachzudenken ausführen konnte, aber nicht ohne Konzentration. Genau so war es:
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