The Hood
und verkauft Gemälde an Restaurants. Ein paar hundert Meter weiter kommt er an Jas und einer Gruppe Junkies vorbei. Wie gewöhnlich starren sie auf einen Kreis zusammengekauerter Tauben. Es ist heute nicht viel los, aber Jas hat noch bis zum späten Nachmittag, bevor der Entzug einsetzt. Er hat gehört, dass die Dealer nach dem scharfen Durchgreifen der Polizei für eine Weile abgetaucht sind, aber er hat ihre Handynummern. Man findet sie immer, wenn man sie finden will.
Pilgrim verlässt den Zug und betritt den Bahnsteig in Southall. Heute trägt er keinen unverwechselbaren Diamantstecker im Ohr und auch keinen silbernen Anhänger um den Hals. Er trägt unauffällige dunkle Kleidung. Seine drei Mobiltelefone liegen zu Hause in seinem Kleiderschrank; stattdessen hat er ein billiges schwarzes Prepaid-Nokia 1661 dabei. Ein Hochgeschwindigkeitszug donnert am Bahnsteig nebenan vorbei wie eine Atomrakete. Er wirbelt einen staubigen Sturm aus Abfall auf. Fahrgäste wenden sich ab und starren noch auf die Gleise hinab, als er schon längst fort ist. Pilgrim nutzt die Ablenkung, um in seiner Sporttasche zu kramen, nachzusehen, ob noch alles da ist.
Gestern hat er mit Troll gesprochen, um das Treffen zu bestätigen. Er trifft früh ein, um den Ort auszukundschaften und herauszufinden, wohin der Hinterausgang führt und welche Tische nicht am Fenster stehen. Er macht das aus reiner Gewohnheit. Aber es ist anders heute. Jetzt arbeitet er für die Bullen.
Er ist Troll noch nie begegnet, trotzdem kennt er den Jungen. Er weiß nichts über seine Geschichte, kann aber problemlos den Kick und das Adrenalin spüren, das dieser Junge aus dem Leben auf der Straße zieht. Pilgrim weiß, wie es ist, ein gefürchteter vierzehnjähriger Gangster zu sein. Vergangene Woche hat er einen anderen gefährlichen Vierzehnjährigen in Lewisham getroffen; der Junge will General werden. Die Woche davor war er mit einem Jungen in Southwark, der durch den Briefschlitz von jemandem eine Schrotflinte abgefeuert hat. Die gleiche Geschichte, totales Chaos. Meistens ist es zu spät, sie noch zu retten, sie stecken schon zu tief drin, also erzählt er ihnen einfach seine eigene Geschichte. Das gibt ihnen etwas, worüber sie nachdenken können, bevor sie von der Dunkelheit verschlungen werden.
Pilgrim zieht den Kragen seiner Jacke bis zum Kinn hoch. Er gleitet verstohlen durch die überfüllten Straßen, sieht niemanden direkt an. Als der Wind auffrischt, ziehen sich manche schutzsuchend unter die Markisen eines Geschäfts zurück, das bunte, perlenbesetzte Saris verkauft. Pilgrim senkt den Kopf und geht weiter. Er will den Jungen nicht hängenlassen.
GLASGOW
9:
Einundsiebzig
»Egal, was Sie tun, erzählen Sie niemandem davon«, sagt der Detective Chief Superintendent und sieht dabei Karyn McCluskey direkt in die Augen. Sie sind allein in seinem Büro, die Tür ist geschlossen. Sie erwidert seinen Blick aus hellblauen Augen unter einem nussbraunen Pony. Ganz in Schwarz bis auf ein Seidentuch, das sie um den Hals trägt.
»Das erklärt, warum Sie so früh gegangen sind. Sie sagten, Sie trainieren für den Triathlon.«
»Ich trainiere immer noch. Ich kann nichts trinken. Ich bin ein unglaublich billiges Date. Bin bekannt dafür.«
Mein Gott, denkt er, McCluskey ist ein harter Knochen, sie rennt immer noch bei Tagesanbruch die Malvern Hills hinauf. Erst sechs Wochen zuvor hatte er sie zur Chefin der Abteilung Intelligence bei der West Mercia Police ernannt, und jetzt ist sie schwanger. Die Leitung einer Einheit mit rund zweitausend Beamten, und einige meinen immer noch, die Rolle der Frau bestünde in der Zubereitung von Tee.
»Es wird noch Monate dauern, bis man etwas sieht«, meint sie achselzuckend. Und damit ist das Thema erledigt.
»Kommst du denn nicht zurück nach Schottland?«, fragt der Vater des Babys seufzend am Telefon, als er die Neuigkeit erfährt.
»Nein, ich bin doch gerade erst hierhergekommen«, erwidert sie.
Liebend gern hätte er gewollt, dass sie nach Glasgow zurückkommt und das Kind gemeinsam mit ihm großzieht. Er ist Schreiner, und sie kennen sich, seit sie drei waren. Aber nur wenige Männer können sich mit dem Tatendrang messen, den Karyn von ihrem Vater geerbt hat. Der Mann hatte den sechsten Dan im Judo und gehörte mit seinem schwarzen Gürtel der britischen Olympiamannschaft an; er verlor seinen Job, als die Zeit der Dampflokomotiven endete, und schulte dann einfach an der University of Stirling um zum
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