The Hood
Amerika. Wir übernehmen heute nur noch den Müll. Musiker nennen Frauen Schlampen und Nutten. Ich komme aus St. Kitts, und nachdem wir das amerikanische Fernsehen bekamen, hat es das Land innerhalb von fünf Jahren total verändert. Die Gangs fingen an, sich zu bekriegen, Familien brachen auseinander, Schießereien waren an der Tagesordnung. Junge Menschen übernehmen die Gang-Kultur, weil sie es sexy finden, gefährlich, unbesiegbar, wagemutig. Aber hier in England geht es um Klasse, Haltung, Sprache, Etikette. Das alles haben wir verloren. Wir haben unsere korrekte Sprache verloren. Jeder ist so unglaublich feige geworden.«
Decima arbeitet mit benachteiligten jungen Schwarzen, die in Bandenkriminalität verwickelt waren. Sie hat bei der Preisverleihung der MOBO Awards auf der Bühne gestanden und den schwarzen Musikern im Zuschauerraum zugebrüllt, sie sollten endlich aufhören, sie Schlampe und Nutte zu nennen.
»Es geht hier um das Versagen junger schwarzer Männer«, fährt Decima fort und richtet dabei ihren Blick direkt auf die am Tisch sitzenden Leute. »Als ich 1995 aus Amerika zurückgekehrt bin, da habe ich diese jungen Schwarzen auf der Straße herumlungern sehen. Ich fragte mich: Was tun die da? Warum sind die da? Weil es so viele waren. Sie sagten, sie seien vom Schulunterricht suspendiert worden. Wir sind hier in England. Wer ist auf diese ausgesprochen dumme Idee gekommen? Man kann doch Kinder nicht aus ihrer eigenen Gesellschaft ausschließen. Dort verbringen sie den größten Teil ihrer Zeit. Dort entwickeln sie ihre Persönlichkeit. Dort haben sie ihre Freunde. Wenn man das mit Erwachsenen macht, werden sie innerhalb von sechs Monaten depressiv. Was glauben Sie denn, was mit den Kindern passiert? So wie sich die jungen Menschen kleiden und benehmen, und die Worte, die sie benutzen, das alles ist nicht britisch, das ist nicht karibisch und das ist nicht afrikanisch«, sagt Decima. »Wir sagen nicht ›Nigger‹, wir benutzen solche Worte überhaupt nicht. Was ich beobachtet habe, ist, dass dieses Wort, das über die Musik nach Großbritannien gekommen ist, jetzt Teil der Alltagssprache unserer jungen Menschen geworden ist. Die jungen Menschen behandeln sich gegenseitig genauso wie der Ku-Klux-Klan im tiefen Süden, und wir töten uns als junge Menschen gegenseitig auf genau die gleiche herzlose, brutale und unmenschliche Art und Weise, in völliger Missachtung von allem und jedem. Sie schießen morgens, vor einer Schule, vor einer Imbissbude, in einem McDonald’s, vor Eltern und Kindern – und sie benutzen dieses Wort. Bevor wir es benutzten, gab es diese Form des Mordens nicht – nicht durch Kinder an Kindern –, und sie sind die Einzigen, die es benutzen, also müssen wir sehr aufmerksam sein. Wenn die asiatischen oder die weißen jungen Leute eine solche Musik produzieren würden, dann würden Sie es im Nu unterbinden, Sie würden es sofort beenden.«
Karyn sieht sie an, als sie mit der Faust auf den Tisch schlägt. Warum sind die Menschen in Schottland nicht so zornig, fragt sie sich. Warum hat Schottland nicht so eine Stimme, eine schottische Decima Francis? Schottland hat seine Seele verloren.
»Was fehlt, ist doch, dass wir vergessen haben, was es bedeutet, britisch zu sein«, fährt Decima fort. »Heute ist es nicht mehr okay, britisch zu sein. Es ist nicht mehr okay, stolz zu sein. Es ist nicht okay zu sagen: ›Reinigt die Straßen. Putzt eure Fenster. Sorgt dafür, dass alles nett aussieht. Schmeißt euren Müll nicht einfach auf den Boden. Steht auf für alte Damen und kleine Kinder. Benehmt euch wie Erwachsene, und benehmt euch anständig. Wir leben in einem zivilisierten Land.‹ Das alles tun wir nicht mehr, und wir müssen dringend wieder damit anfangen.«
Als Nächster spricht Reverend Nims Obunge von der Peace Alliance. Er ist wortgewandt, energiegeladen und trägt feinen Zwirn. Auch er schlägt mit der Faust auf den Tisch und spricht davon, dass wir eine komplette Generation junger schwarzer Männer der Straße überlassen. Karyn beschließt, dass es an der Zeit ist, sich zu Wort zu melden.
»Es geht hier nicht um junge schwarze Männer«, unterbricht sie. »Es geht um junge Männer.«
Decima und Nims und John Reid drehen sich zu ihr um. Sie haben meinen Glasgower Akzent bemerkt, denkt sie.
»Denn die Männer, mit denen wir es in Glasgow zu tun haben, sind ausnahmslos junge Weiße. Die Opfer sind ohne Ausnahme junge weiße Männer. Die Täter sind ohne Ausnahme
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