The Hunter - Die komplette erste Staffel
innerlich sogleich die Antwort. Schon sein ganzes Leben war sie sein Schatten, tat, was er wollte, zog sich an, wie er wollte, sagte das, was er wollte. Ein Psychiater hatte mal seine Vermutung geäußert, dass daher auch ihre Angst vor engen Räumen kommen könnte. Sie würde sich nicht genug abgrenzen und deswegen zu wenig Eigenständigkeit entwickeln. Und weil sie dies nicht wahr haben wolle, reflektiere sie ihre Ängste nach außen.
Damit hatte er ganz genau Kassandras Beziehung zu ihrem Zwillingsbruder Frank beschrieben. Der Mann hatte Kassandras wunden Punkt getroffen. Sie ging nicht mehr zu den Sitzungen. Obwohl sie tief im Inneren ahnte, dass ihre symbiotische Beziehung der Auslöser war, wollte sie das keinesfalls wahrhaben und lebte ihr Leben weiter wie bisher.
Vor einigen Wochen jedoch war etwas passiert, was Kassandra in tiefste Nöte stürzte. Denn Frank gehörte ihr nicht mehr allein. An seinem dreißigsten Geburtstag hatte Frank zufällig die Liebe seines Lebens getroffen. Von diesem Tage an nabelte er sich von seiner Schwester ab. Sie spürte das, verdrängte es, mit dem Ergebnis, dass ihre Phobie mit jedem Tag schlimmer wurde. Ihrer Panikattacken wegen schlief sie nicht mehr in ihrem Zimmer, sondern draußen im Garten. Die Gedankenräder in Kassandras Kopf drehten und drehten sich: Was, wenn er nun die Frau fürs Leben gefunden hätte? Sie verlassen würde? Es wäre, als wenn sie ihre Eltern noch einmal verlieren würde. Das hielte sie nicht noch einmal aus, aber würde sie es ihm sagen? Nein. Sie hielte durch, würde gute Miene zum bösen Spiel machen, sich für ihn freuen. Ob sie schon einen … nein! Niemals. Außer Frank hatte es nie einen Mann gegeben, der näher als eine Armeslänge an sie herangekommen war. Sie ging nicht aus, hatte keine Freundinnen, kein Hobby. Ihre Arbeit verrichtete sie in einer Fabrik für Knöpfe und dort sprach sie nur, wenn sie musste. Ihr Aussehen? Was kümmerte es sie, wie sie aussah? Frank liebte sie doch so, wie sie war.
„Auf deine inneren Werte kommt es an, Kassi“, sagte er immer und streichelte dabei ihr Gesicht. Dass es jemals soweit kommen könnte, dass er nicht mehr nur noch sie liebte, daran hätte sie im Traum nie gedacht. Oder doch, eigentlich war es die logische Konsequenz, denn er war schon immer offener, selbstsicherer und hatte Freunde, die für ihn den runden Geburtstag ausgerichtet hatten.
Auf dieser Party hatte er Sandy kennengelernt. Das war der Anfang vom Ende gewesen. Da Frank sah, wie Kassandra litt und sie liebte, hatte er sie zu dieser Gruppentherapie überredet.
Traurig seufzte sie leise, schluckte die Aufregung hinunter und hob den Kopf erneut. Als registriere sie die Menschen um sie herum erst jetzt, blinzelte sie kurz, spürte die Hitze in den Kopf steigen und räusperte sich.
„Ich muss zehn gewesen sein. Genau weiß ich das nicht mehr. Nach dem Tod meiner Eltern wurden mein Zwillingsbruder und ich zu einer Pflegefamilie gebracht. Man dürfe uns nicht trennen, hatte ein Psychiater empfohlen, also kamen wir in ein Haus mit fünf weiteren Kindern. Wenn sie mir Frank wegnahmen, damit er auf dem Feld aushalf, flippte ich völlig aus. Als es wieder soweit war, es war ein heißer Augusttag, daran erinnere ich mich genau, nahmen sie meinen Bruder mit und kurz darauf schleppte mich meine Pflegemom in den Keller. Sie schrie und fluchte, weil ich mich wehrte und sperrte mich in eine kleine Besenkammer. Sie drückte mich zwischen Putzeimer unter einem Regal, schloss die Tür hinter mir ab und ließ mich allein.“ Kassandra räusperte sich wieder. Ihre Nervosität stieg an, weil es plötzlich still um sie geworden war. „Sie ließ mich dort und ich schrie, bis ich keine Stimme mehr hatte. Ich konnte mich nicht bewegen, die Dunkelheit erdrückte mich fast und dann versuchte ich, die Tür von innen zu öffnen. Ich stemmte meine Füße dagegen, aber nichts rührte sich. Ich war zu schwach. Und nach Stunden der Angst in meinem eigenen Urin, als ich dachte, jetzt stirbst du, kam Frank und zerrte mich aus dem Loch. Er war ja auch erst fünf, mein älterer Zwilling, aber er trug mich aus dem Haus und rannte mit mir fort.
Die Polizei griff uns auf und wir kamen zu einer neuen Familie, die uns liebte, aber seitdem begleiten mich die Panikattacken“, beendete sie ihre Geschichte.
Und wir waren seither unzertrennbar, bis Sandy kam , dachte sie und spürte eine heiße Träne im Auge. Ohne ein weiteres Wort ließ sie sich auf den Stuhl sinken.
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