The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
den weichen Boden, sehe mich um und bin überwältigt.
Sanfte Hügel bis zum Horizont, dahinter eine Bergkette, schroff und schneebedeckt. Wolken ziehen über mich hinweg, über das Gras, das so kurz und grün ist wie in einem Park, über die vereinzelten Bäche und Bäume. Ich bin auf einen Hügel gestiegen und habe mich auf den weichen Boden fallen lassen. Die Welt in meinem Rücken ist langsam immer kleiner geworden, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, ihre Krümmung wahrnehmen zu können. Tibet ist anders als die Alpen. Hier oben gibt es sie nicht, die bedrückende Enge der Täler und Almen, es ist nicht einfach nur ein Gebirge, sondern ein Hochland. Es fühlt sich an, als könnte man den Himmel einatmen.
Meine Freunde sind kleine Punkte unten am Bach. Sie haben Hocker, Angeln und Eimer dabei. Zum Abendessen wird es Fisch geben, haben sie gesagt. Ab und zu trägt der Wind ein Lachen zu mir nach oben. Auch die Yaks sind nur noch weiße Punkte. Sie bewegen sich kaum merklich über die grüne Ebene hinweg, immer auf der Suche nach dem besten Gras, um es gemächlich abzukauen.
Sie sind stille Komödianten, diese Tiere. Massige Körper, dicht bedeckt mit Zotteln, darunter Beine, die erstaunlich zierlich aussehen, so stehen sie grüppchenweise da und wollen nichts als ihre Ruhe haben. Wenn man sich ihnen nähert, dann tun sie eine Weile lang so, als hätten sie es nicht bemerkt. Wenn maneinen bestimmten Mindestabstand unterschreitet, setzen sie sich genervt in Bewegung, und zwar immer genau so viele Schritte, wie man selbst auch gemacht hat. Man nähert sich dem Yak um vier Meter, und es geht vier Meter weg. Zu mehr ist es zu faul, und was es eigentlich nur sagen möchte, ist: »Geh woandershin, das Hochland ist groß.«
»Yaks sind wie Wasserbüffel«, erkläre ich dem völlig erstaunten Ngodup, als wir in der Abenddämmerung zurückfahren. »Obwohl sie so riesig sind und dazu noch Hörner auf dem Kopf haben, sind sie trotzdem so schüchtern, dass sie immer wieder vor mir abhauen.«
Die Tibeter brechen in wildes Gelächter aus.
»Glaub mir, kleiner Lei, mit einem wütenden Yak willst du dich nicht anlegen!« Ngodup wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Die, die du heute gesehen hast, gehören einem Freund von mir, die sind völlig harmlos und an Menschen gewöhnt. Sonst hätte ich dich nicht zu ihnen hingehen lassen.«
Ich beschließe, nicht sofort weiterzumarschieren, und verbringe einen Tag in einem Tempelgarten. Ich habe mein Buch dabei, sitze in der Sonne und sehe einem jungen Mönch zu, wie er den Tempel immer wieder im Uhrzeigersinn umkreist. Er hat kurz geschorene Haare und trägt ein burgunderfarbenes Gewand, in der Hand hält er eine hölzerne Gebetskette. Als er irgendwann mit seinen Umkreisungen fertig ist, spreche ich ihn an, um zu erfahren, wie viele Runden er gemacht hat. Zweihundert, sagt er, und während ich darüber nachdenke, wie viele Kilometer das wohl sein mögen, wird mir klar, dass es auch für mich an der Zeit ist, wieder weiterzugehen.
Am nächsten Morgen lasse ich Tianzhu hinter mir. Die Luft schmeckt nach Regen, doch das macht mir nichts aus. Ich komme durch baumbestandene Alleen und durch eine lang gezogene Ortschaft, die weitgehend verlassen zu sein scheint. Schaudernd nehme ich eine ausgewaschene Schrift an einer Wand wahr: EINHOCH AUF DIE GEDANKEN MAO ZEDONGS, steht dort in kalkigen Schriftzeichen, ein Relikt aus der Zeit der Kulturrevolution. Es ist das erste Mal, dass ich diese Worte in dieser Form sehe, und sie lassen mich an die politischen Kampagnen denken, die das Land damals so erschüttert haben. Ich betrachte das Gebäude: Früher war es wohl eine Fabrik, jetzt scheint es leer zu stehen. Wenn es irgendwann abgerissen wird, werden mit ihm auch die Schriftzeichen verschwinden. So ist der Fortschritt in diesem Land: Er hat nicht nur die Stadtmauern, die Tempel und die Dichter überrollt, sondern auch den Kommunismus.
Je weiter ich im Hexi-Korridor komme, desto steiler steigt die Straße an, und desto mehr verändert sich auch das Land. Es fühlt sich an, als hätte ich einen Garten durch die Hintertür verlassen und würde hinaus auf die kahlen Felder gehen. Hier oben gibt es jedenfalls keine Rosen.
Und dann, an einem Nachmittag, kühl und hart wie das Innere einer Kathedrale, merke ich, dass ich bei dem Pass von Wushaoling angekommen bin. Das GPS zeigt fast dreitausend Meter, und die Landschaft ist die der Hochebene: kurzes Gras und rollende Hügel, Bergzinnen
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