The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
am Horizont. An einer Stelle bleibe ich verwundert stehen: Eine Erhebung zieht sich in langen Schwüngen über die Hügel hinweg, sie erinnert mich an die Wirbel auf einem Rücken, an manchen Stellen ist sie kaum noch zu erkennen, aber sie ist da: die Große Mauer.
Ich verlasse den Asphalt und laufe ihr entgegen, lege die Hand auf ihren Lehm. Sie ist wie ein alter Freund, und hier, an dieser Stelle, wo der Wind schon seit mehr als zweitausend Jahren an ihr zerrt, wirkt sie noch verletzlicher als sonst. Ein Haufen gestampfter Erde ist sie, viele Jahrhunderte älter als die Steinmauern aus der Ming-Dynastie, und niemand hat sich die Mühe gemacht, sie für den Tourismus wieder instand zu setzen. Ich folge ihr ein Stück über die Hügel, bis ich sehe, wie sie in den Bergen verschwindet, dann reiße ich mich los und gehe in Richtung des Passes, meine Schritte gedämpft auf dem weichen Untergrund.
An der höchsten Stelle der Straße steht ein Schild mit einer Höhenangabe und einem Spruch aus der Zeit von Deng Xiaoping. In sperrigem Bürokratenchinesisch wird dort gemahnt, dass Regierung, Volk und Militär zusammenwirken sollen, um die Bedingungen im Hexi-Korridor zu verbessern. Ich muss an den Mao-Slogan denken. Über zweitausend Jahre lang haben die Kaiser von China Regierungsdevisen verkündet, mit denen sie ihre Herrschaft zusammenfassen oder ihre Wünsche ausdrücken wollten. So nannte der erste Kaiser der Sui, nachdem es ihm endlich gelungen war, das Reich nach Jahrhunderten der Spaltung wieder zu vereinen, seine Herrschaft kaihuang – »das Kaisertum beginnen«. Und später, als seine Stellung gefestigt war, verkündete er eine neue Devise, die besser zu der veränderten Situation passte: renshou – »gütiges, langes Leben«.
Es ist vielleicht ein gewagter Sprung von der Kaiserzeit bis in die Volksrepublik, doch auch die Anführer des modernen China haben ihre jeweils eigenen Slogans: Es hat die »Gedanken Mao Zedongs« gegeben, die »Theorie Deng Xiaopings«, die »drei Vorbilder« von Jiang Zemin – und heute gibt es das »wissenschaftliche Entwicklungskonzept«, mit dem Hu Jintao China regiert.
Etwas aber hat sich seit dem Tod Mao Zedongs geändert: Früher verlangte jede neue Parole nach einer Massenkampagne. Seit der Reformzeit ist das nicht mehr so. Wenn heute eine Regierungsdevise verkündet wird, dann bedeutet das für die meisten Leute nichts Besonderes mehr. China hat einen Weg des »Sozialismus chinesischer Prägung« eingeschlagen, es hat sich marktwirtschaftliche Prinzipien zu eigen gemacht, das zweitgrößte Autobahnnetz der Welt gebaut und über einhundertfünfzig Millionenstädte aus dem Boden gestampft. Außerdem hat ohnehin kaum noch jemand Zeit oder Lust, für irgendwelche abstrakten Ideen auf die Straße zu gehen.
Und nur scheinbar ist es ein Widerspruch, dass über allem immer noch das Gesicht von Mao hängt. Es leuchtet von der Fassade der Verbotenen Stadt und von den Geldscheinen, doch es ist nur noch ein leeres Symbol. Mao Zedong steht für ein Chinaunter der Kommunistischen Partei, aber er ist nur noch das Maskottchen eines Landes, das sich nach all den Irrwegen des zwanzigsten Jahrhunderts endlich eingenordet hat auf seine zwei großen Ziele, die unabhängig sind von allen Regierungsdevisen: Fortschritt und Stabilität.
Juli lacht wie immer, wenn ich überall Zeichen sehe. »Das ist doch nur ein altes Schild«, sagt sie. »Daran fahren die Leute einfach vorbei, ohne es überhaupt nur anzugucken. Das interessiert niemanden!«
Eigentlich hat sie nicht angerufen, um mit mir meine politischen Überlegungen zu diskutieren, sondern um zu berichten, dass sie ein Paket aus Beijing bekommen hat.
Gestern stand es bei ihr vor der Tür. Eine große Packung Tee war darin, und in dem Tee war eine versiegelte Plastiktüte. Der Streifenfisch. Meine Freundin Carla hatte ihn gekauft und in ihrer Beijinger Küche eingesalzen, nachdem sie sich über mein Anliegen halb totgelacht hatte. Juli und ich waren in ihren Augen so etwas wie liebenswerte Exzentriker.
»Und, bist du jetzt meine Freundin?«, frage ich ins Telefon, und das Hochland um mich herum ist so still, als würde es zusammen mit mir auf die Antwort warten.
Juli lacht, dann sagt sie: »Ja.«
POLITIK
Vor mir liegen die Oasenstädte, die zwischen dem Gebirge und der Gobi aufgereiht sind wie Wäschestücke auf einer Leine. Wuwei ist die erste, und wenn ich sie erreicht habe, werden auch die Gebiete nicht mehr fern sein, die auf der
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