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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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frage ich, und Zhu Hui lacht. »Es ist doch schon fast Winter! Es gibt hier keine Blüten mehr, aber vielleicht pflanzen sie ja demnächst einfach Plastikbäume an?«
    Im Tempel ist ein alter Daoist damit beschäftigt, die Zeitung zu lesen und auf Leute wie uns zu warten, um gegen ein bisschen Kleingeld ihr Schicksal vorherzusagen. Zhu Hui streckt den Arm seitlich aus wie ein Portier und blickt mich erwartungsvollan. »Was für eine gute Gelegenheit: Frag doch mal, ob du es bis nach Deutschland schaffen wirst!«
    O nein – genau so etwas hatte ich eigentlich vermeiden wollen! Hätte ich ihm bloß nichts von meinem Plan erzählt! Ich winde mich verlegen und starre immer wieder demonstrativ zur Tür, während Zhu Hui mit dem alten Mönch flüsternd irgendetwas beredet.
    »Zieh!«, sagt dieser schließlich mit hallender Stimme und deutet auf ein Gefäß mit Holzstäbchen. Okay, was soll’s . Ich nehme ein Stäbchen aus dem Gefäß heraus und lege es in die runzelige Hand des Daoisten.
    »Hm«, macht der, schaut es prüfend an und zieht es langsam über ein Stück Papier mit mehreren Reihen Schriftzeichen. Ich blicke fragend zu Zhu Hui hinüber, doch der hebt nur die Augenbrauen.
    »Also«, sagt der alte Mönch schließlich und hält das Stäbchen mit beiden Händen in meine Richtung, »du wirst deine Ziele erreichen, deine Geschäfte werden von Erfolg gekrönt sein, und deine Nachkommen werden einen Universitätsabschluss haben.«
    Aha.
    Ich bedanke mich für die Weissagung und lege etwas Kleingeld auf den Tisch. Dann verlassen wir den Tempel und den Pfirsichhain und gehen querfeldein wieder zurück zur Landstraße. Ich muss mich zwingen, das Lauftempo zu erhöhen, denn wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns, wenn wir heute Abend die Stadt Gaobeidian erreichen wollen. Die Blasen an meinen Füßen zwingen mich immer wieder zu kurzen Ruhepausen.

KAPUTT
    Ich stehe vor einer weiß getünchten Mauer, auf die jemand in großen blauen Schriftzeichen die Worte JUNGEN UND MÄDCHEN SIND GLEICHWERTIG geschrieben hat, und wundere mich darüber, wie weit ich offenbar bereits von der Hauptstadt entfernt bin. In Beijing, dieser alles verschlingenden Metropole mit ihren Glitzerkaufhäusern und Ringstraßen, hat der letzte dieser Art Sprüche vermutlich schon vor mehr als einem Jahrzehnt der Hochglanzwerbung für Handtaschen von Louis Vuitton oder Armani Platz machen müssen.
    Hier jedoch, in der laubbedeckten dörflichen Stille, in der ein schwacher Geruch nach brennenden Kohlen hängt, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Ich hole die Kamera mit dem Weitwinkelobjektiv aus der Tasche, um den Moment zu dokumentieren. Sanft duckt sich der Auslöser unter meinem Zeigefinger, der Spiegel schlägt mit einem zufriedenen Klacken hoch und runter, und einen Moment später leuchtet mir das Bild von der Mauer auf dem Kameradisplay entgegen.
    Doch dann geht auf einmal gar nichts mehr. Das Display bleibt schwarz, die Kamera ist unansprechbar. Ich drücke ein paar Minuten lang alle möglichen Knöpfe, wechsele den Akku und die Speicherkarte, und schließlich gebe ich entnervt auf.
    Vor noch nicht einmal einem Monat habe ich meine Ausrüstung zusammengekauft. Und jetzt gibt bereits die erste der beiden Kameras ihren Geist auf?
    Ich beschließe, im Dorf einen Ort zu suchen, an dem ich sie genauer untersuchen kann; ein abgeschlossener Raum müsste es sein, damit kein Staub in den Apparat gerät. Ich laufe in den Spurrillen eines Treckers auf der Dorfstraße entlang, und nur die Kälte verhindert, dass der Matsch aufweicht und ich bis zu den Knöcheln einsinke. In einer Ecke schichtet eine alte Frau mit Kopftuch Reisig und Brennholz zusammen und redet mit sich selbst, und damit ist sie nicht alleine, denn auch meine Flücheund jammernden Worte trägt der Wind davon. Ich merke, dass ich meinen Freund Zhu Hui vermisse. Es war schön, nicht allein unterwegs zu sein.
    Gestern war ich nach dem Mittagessen in einem kleinen Restaurant am Straßenrand vor Erschöpfung eingeschlafen, die Arme vor dem Körper verschränkt und der Kopf auf die Brust gesunken. Irgendwann wachte ich auf und blickte in einem Moment der Panik um mich, doch alles war noch genau wie vorher: Die Kameras und das GPS-Gerät lagen vor mir auf dem Tisch, mein Rucksack lehnte träge an der Wand, und sogar die leere Reisschüssel stand noch an ihrem Platz.
    Zhu Hui saß mir gegenüber und blinzelte mich über sein Handy hinweg amüsiert an. »Du bist eingeschlafen!«, bemerkte er

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