The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Rot der Klinkerfassaden. Vielleicht werde ich es irgendwann dort aushalten können. Vielleicht, wenn ich zu Fuß dorthin gelaufen bin.
SOMMER
HALLO, WÜSTE
8. Juni 2008: Sishilipu, am Rande der Wüste Gobi
Ich liege auf meiner Isomatte in der Dunkelheit, und alles ist still. Die Statuen der Bodhisattwas sind dunkle Schemen, und auch die Tücher über mir an der Decke haben fast keine Farben mehr. Ein Lichthauch fällt durch einen Spalt im Dach und lässt eines von ihnen grün erscheinen. Oder ist es blau?
Die Nacht hat mich überrascht. Eben stand ich noch in der Werkstatt der Künstlerin und schaute ihr beim Arbeiten zu, dann war es draußen auf einmal so dunkel, dass ich einen Schlafplatz brauchte. Die Frau lachte: In diesem Dorf gebe es kein Gasthaus, aber wenn es mir nichts ausmache, könne ich gern im Tempel übernachten.
Der Weihrauch zieht in duftenden Schwaden durch den Raum. In der Tiefe kann ich einen Punkt erkennen, es muss das glimmende Ende des Räucherstäbchens sein. Ich stelle mir das Leben hier schön vor, in der Stille dieses Landtempels, mit den Statuen und Wandmalereien und der Zeit, die es braucht, um sie alle zu restaurieren.
Jemand kommt. Ich spüre es, noch bevor ich das Schlurfen der Schritte höre. Ein Rascheln an der Tür, sie wird knirschend aufgeschoben, ein Keuchen und ein lautes Knacken. Das Licht geht an, und ich sehe eine alte Frau. Eine wütende alte Frau. Sie zeigt auf mich, auf die Bodhisattwas und auf die Tür, und dabei entströmt ihr ein langer Wortschwall in einem Dialekt, der sich anhört wie mahlende Steine. Ich verstehe kein Wort, doch die Botschaft ist unmissverständlich: Ich soll hier weg.
Mein Rucksack baumelt mir schräg von der Schulter, als ich der alten Frau in die Dunkelheit folge. Ich habe nicht einmal Zeit gehabt, meine Schuhe richtig festzuschnüren. Sie schlurft zwei Schritte vor mir her und spricht unentwegt mit sich selbst, und es hört sich furchtbar verärgert an.
»Tut mir leid«, sage ich etwas hilflos, doch sie schenkt mir keine Beachtung.
Vor einer anderen Tempelhalle bleibt sie stehen. Sie schiebt das Tor auf, dann winkt sie mich über die Schwelle und deutet auf den Boden. Dort liegt, im gelben Licht einer einzelnen Lampe, eine Plastikplane wie eine schwarze Öllache.
Es ist die daoistische Halle des Tempels: Die Götterstatuen tragen Umhänge und Hüte der kaiserlichen Beamten, und sie haben wallende Bärte. Die alte Frau deutet auf die Plane, doch ich verstehe nicht.
»Ich soll hier schlafen?«
Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. Plötzlich steht die Künstlerin in der Tür.
»Oma hat Stress mit dem Vorsteher der buddhistischen Abteilung«, erklärt sie. »Sie hat Sorge, dass sie sich Ärger einhandeln könnte, wenn sie dich im buddhistischen Teil des Tempels übernachten lässt.«
»Und hier ist das kein Problem?«
»Überhaupt keines. Wir sind mit dem Chefdaoisten sehr gut befreundet!«
Der Chefdaoist kommt, nachdem die beiden Frauen verschwunden sind. Er brummt etwas in seinen Bart hinein, dann geht er hinaus und kommt mit einer Steckdosenleiste wieder. »Strom aufladen«, murmelt er und zeigt auf meine Kameras. Dann ist er weg, und ich bin wieder allein.
Ich rolle meine Isomatte auf der Plane aus, lege meinen Schlafsack darauf und schlüpfe hinein. Meine Schuhe, die Kamerataschen und den Rucksack lege ich daneben. Von irgendwoher kommt der Geruch von Weihrauch, wie in der anderen Tempelhalle auch. Ich schließe die Augen, lausche in die Stille. Dann öffne ich sie wieder. Ich stehe auf und gehe zum Schrein, zähle die Götterstatuen, es sind siebenundzwanzig. Dazwischen steht eine Büste von Mao Zedong.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, holt mich die Oma zum Frühstück ab. Es gibt Mantou, die kleinen, gedämpften Brötchen, die ich in der Kälte des Winters so gern gegessen habe. Wir sitzen in der Kunstwerkstatt, essen und trinken Tee, und die Sonnenstrahlen des Morgens fallen zum Fenster herein. Eine Katze schleicht um uns herum. An den Wänden hängen Landschaftszeichnungen, dazwischen steht die Rohform einer Statue aus Holz und Stroh. Später wird sie mit Lehm ausgeformt, vergipst und bemalt. Es riecht schwach nach Terpentin.
Ich kaue mein Mantou, betrachte die Statue, die blaue Latzhose der Künstlerin und die Katze im Sonnenlicht, und mit einem Mal fühle ich mich wie der kleine Junge, der vor mehr als zwanzig Jahren in der Küche auf dem Boden sitzt, während Mama kocht.
»Bleib doch noch einen Tag bei
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