The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Schild, und dahinter sehe ich sie tatsächlich: Sie verläuft von Horizont zu Horizont, ein mächtiger Wall aus Lehm, durch dessen Mitte die Landstraße durchgebrochen ist wie eine schlagende Faust.
Ich klopfe an die Tür der Ausstellungshalle, warte auf eine Antwort und stehe eine Zeit lang unschlüssig herum. Die Mauer sieht traurig aus: Sie ist bröckelig und verformt, Klumpen gelben Lehms sind auf die Fahrbahn gefallen, die Autos walzen mitleidlos darüber hinweg.
Die Tür eines der Restaurants geht auf, und eine Frau kommt heraus. Sie trägt eine Schüssel zu einem Wasserhahn, um Gemüse zu waschen. Ich bin froh, jetzt weiß ich, dass ich etwas zu essen bekommen werde.
Während ich ein Gericht aus Tomaten und Eiern in mich hineinstopfe, erzählt mir der Besitzer des Restaurants, wie einträglich der Tourismus hier früher war.
»Bis irgendwann jemand auf die Idee gekommen ist, die Altertümer in die Museen der Städte zu schaffen! Jetzt gibt es hier nichts mehr zu sehen, und unsere Mauer verfällt endgültig.«
Eines jedoch ist ihnen geblieben: die Sorte Wassermelonen, die in dieser Gegend angebaut wird. Sie trägt nach wie vor denEhrfurcht gebietenden Namen Changchengwang – »König der Großen Mauer«.
Ihm fällt etwas ein. »Sag mal«, fängt er an und beugt sich zu mir über den Tisch, »kennst du eigentlich diese Frau mit dem Esel?«
Ich blicke ihn fragend an.
»Die war vor einer Weile hier, kam aus der anderen Richtung gelaufen als du, eine Ausländerin, ich weiß nicht, woher, vielleicht Amerika, und einen Esel hatte sie dabei.«
Ich entschließe mich dazu, am Fuß der Mauer weiterzugehen. Sie hat überall Löcher und Scharten, manche sind so groß, dass man darin übernachten könnte. Sie führt durch hohe Getreidefelder. Beim Gehen streiche ich mit der Hand über die Ähren und fühle sie weich durch meine Finger gleiten. Einmal finde ich einen Weg auf die Mauer hinauf. Das Klettern ist nicht einfach, aber als ich oben bin, kann ich weit über die Landschaft hinwegblicken. Ich sehe die Schafherden wie Blüten in den Feldern, höre die Krähen, die sich schimpfend über mir in die Luft erhoben haben, und am Horizont sehe ich die zarten Streifen der Wolken. Meine Schritte sind gedämpft, die Nachmittagssonne hat das Land in Gold getaucht. Ich bin im Westen Chinas, irgendwo auf der Großen Mauer. Es ist ein Moment, an dem ich nicht aufhören möchte zu laufen.
In der Dämmerung erreiche ich die Stadt Shandan. In einem kleinen Kiosk kommt das Gespräch wieder auf die Dame mit dem Esel. Hoch sei sie gewachsen, heißt es diesmal, hoch und furchtbar hager. Sie sei in Dunhuang losgelaufen, um den Krebs zu bekämpfen.
Den Krebs?
Der Kioskbesitzer und seine Frau gucken einander achselzuckend an, dann wiegelt er ab. »Krebs oder so was. Irgendeine schlimme Krankheit!«
FREMDE
Ich bleibe einen Tag lang in Shandan.
Die Stadt ist grün und lebhaft wie Wuwei, aber kleiner. In der Mitte befindet sich ein Park mit einem Denkmal, es zeigt zwei europäische Herren mit einer Gruppe von Kindern: Rewy Alley und George Hogg. Die beiden Neuseeländer lebten während des Zweiten Weltkriegs in Shandan und betrieben eine Schule für Waisenkinder. Hogg rammte sich später einen verrosteten Nagel in den Fuß und starb, doch Alley ging nach Beijing, wo er als Freund der Kommunistischen Partei eine Wohnung bezog und Bücher schrieb. Er war einer der wenigen Ausländer, die die Staatsbürgerschaft der Volksrepublik erhielten, und es muss ihm verhältnismäßig gut dabei gegangen sein, denn zum Ende seines Lebens hin war er vor allem eines: auffallend dick.
Hinter Shandan liegt ein Stausee. Ich laufe an seinem Ufer entlang und hinterlasse eine Spur tiefer Abdrücke im Boden. Frösche und Enten quaken, die Sonne brennt auf das Wasser nieder wie auf einen blauen Spiegel. Ich werfe einen Steinbrocken hinein und sehe den Wellen dabei zu, wie sie sich in immer zarteren Kreisen ausbreiten.
»Natürlich, die Oma mit dem Esel!«, sagen die Leute im Dorf Qijiadian. »Die ist hier vorbeigekommen, den ganzen Weg aus Jiayuguan, und das zu Fuß, so wie du!«
Als ich sie frage, ob die Frau krank wirkte, winken sie ab. »Die war nicht krank! Wie hätte sie denn sonst so herumlaufen können? Die war auf Pilgerschaft oder so.« Gutmütiges Lachen. »Ihr Ausländer habt wirklich die tollsten Ideen.«
Ich werde im Tempel untergebracht. Er liegt neben einem Teich am Rand des Dorfes, die Einwohner haben ihn erst vor Kurzem
Weitere Kostenlose Bücher