The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Kilometer keine Orte gibt. Trotzdem mache ich mir nicht die Mühe, mehr Vorräte mitzunehmen als sonst, denn ich vertraue auf die Autobahn, die in der gleichen Richtung verläuft wie die Straße. Es wird schon Mautstationen oder Tankstellen geben , denke ich.
Doch es gibt nichts.
Ich habe mein Wasser bereits ausgetrunken, und zu essen habe ich auch nichts mehr. Der Wind treibt dicke Wolken über die Gobi, also ist es wenigstens nicht zu warm. Trotzdem bereue ich meinen Mangel an Voraussicht.
Ich liege auf einem Feld und schaue Kaninchen dabei zu, wie sie mich neugierig umzingeln, als eine Gruppe Motorradfahrer vor mir anhält. Es sind Rentner, drei Männer und zwei Frauen, die zu einem Ausflug in die Berge unterwegs sind. Zur Begrüßung bieten sie mir Wasser an, und als ich es sofort gierig an die Lippen setze, stopfen sie mir noch zwei Flaschen Eistee in die Außentaschen meines Rucksacks. Wir jungen Leute seien zu unvorsichtig, sagen sie gönnerhaft. Außerdem solle ich mich vor dem heraufziehenden Sturm in Acht nehmen.
Ich bin noch vier Kilometer von meinem Ziel Fengchengpu entfernt, als ein ferner Donner die Ebene erzittern lässt. Ich drehe mich um: Der Himmel hat eine grünliche Färbung angenommen, und von den Hügeln im Süden wälzt sich eine schwarze Wolkenwand zu mir herab. Aus ihrer Mitte zucken Blitze hervor.
Ich komme mir vor wie ein Grashalm in der Fläche der Gobi.
Dreißig Kilogramm Gepäck. Ich greife mit den Trekkingstöcken weit aus, bereit, sie von mir zu werfen, sobald die Wolken mich erreichen. Mit riesigen Schritten eile ich über das Land.
Die Luft schmeckt nach Metall, oder vielleicht bilde ich mirdas auch nur ein. Das Donnern wird lauter und der Himmel dunkler, je näher das Gewitter kommt. Ich denke an die Kaninchen: Die Viecher verkriechen sich einfach in ihrem Bau und warten ab, bis alles vorbei ist. Und ich renne hier draußen herum und habe Angst.
Den ersten Tropfen spüre ich wie einen Schlag. Er rollt meine Stirn herunter, während die nächsten auf meine Jacke knallen. Ich blicke nach oben: Die Wolken sind da, sie sehen aus wie finstere Wülste, die sich dicht über dem Erdboden verkeilen und ineinander verknoten. Vor mir liegt das Dorf, ich kann das Ortsschild bereits erkennen, es steht neben der Straße, aufrecht wie ein Blitzableiter. Fengchengpu. »Fruchtbares Dorf«.
Als ich das Schild passiere, ist es kein Gehen mehr, sondern ein Rennen. Mein Gepäck scheppert an meinem Körper, hinter mir wütet der Donner, ich passiere das erste Haus, dann das zweite, Regentropfen prasseln auf meine Jacke, beim dritten Haus hämmere ich an die Tür.
»Gibt es hier irgendwo ein Gästezimmer?«
Die Hausfrau blickt beunruhigt an mir vorbei in die Wolken, und ich ziehe unwillkürlich den Kopf in den Nacken.
»Komm rein«, sagt sie schließlich, »wir haben ein Zimmer frei.«
Ich bekomme einen winzigen Raum mit einem Kang und einem einglasigen Fenster, an dem der Regen hinunterläuft. Es ist perfekt. Ich werfe meine Sachen ab und stürme zurück ins Eingangszimmer. »Gibt es hier ein Restaurant?« Eigentlich will ich nicht noch einmal nach draußen, aber ich fühle mich schwindelig vor Hunger. Die Frau zeigt auf die nächste Straßenkreuzung, und schon bin ich unterwegs.
Die Tür zum Restaurant ist offen. Ich schiebe den Vorhang aus Plastiklamellen beiseite und betrete einen leeren Raum. An den Wänden hängen Poster von Blumen und Landschaften, die Tische sind aus dunklem Holz. Es ist kein Geräusch zu hören außer dem Regen und dem Donner.
»Wei?« , rufe ich, und für einen Moment erinnert mich die Atmosphäre an Meister Yans Tempel in den Bergen. Meine Stimmeverhallt, dann regt sich doch noch etwas. Ein Mädchen kommt aus einer Tür und hält erschrocken die Hände vor das Gesicht.
»Papa, da ist ein Ausländer!«, ruft sie, und ein Koch erscheint.
»Habt ihr geöffnet?«, frage ich, und er nickt.
Als ich am nächsten Morgen auf meinem Kang aufwache, ist alles vorbei. Ein Esel blickt mir verwundert hinterher, während ich das Dorf in Richtung Nordwesten verlasse. Es sind zwanzig Kilometer bis zur nächsten Siedlung, ich sehe Büsche mit winzigen violetten Blüten und ab und zu ein paar vereinzelte Bäume.
Von der Siedlung ist fast nichts mehr übrig. Eine Reihe von Restaurants und Andenkenläden stehen um einen leeren Parkplatz. Sie wirken, als ob sie schon seit Langem keine Kundschaft mehr gesehen hätten. AUSSTELLUNGSHALLE DER GROßEN MAUER, steht auf einem rostigen
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