The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Karte mit Sternchen als Einöde gekennzeichnet sind.
Die Straße führt steil bergab und läuft in der Ebene aus, und wieder ist alles anders als zuvor: Es sind mehr Fahrzeuge unterwegs als im Hochland, es gibt Felder und kleine Wälder, und es ist schon fast Sommer hier unten. Einmal falle ich am Feldesrand in einen tiefen Schlaf und wache erst auf, als eine Gruppe Leute um mich herum zusammengekommen ist und durcheinanderkichert. Die Frauen haben Kopftücher umgebunden, vielleicht gehören sie zu den Hui, ich bin zu benommen, um danach zu fragen.
Es ist noch ein halber Tagesmarsch bis Wuwei, als ich auf Onkel Shen treffe.
Er kommt mir auf der anderen Straßenseite entgegen, ein bunt gekleideter Fahrradfahrer mit Helm und großem Gepäck. Als er mich bemerkt, hält er an und winkt mir über den Verkehr hinweg zu. Ich winke zurück, und eine Fotoschlacht nimmt ihren Lauf: Er holt eine Kamera hervor, ich mein Weitwinkelobjektiv, er kontert mit einem Camcorder, ich mit dem Teleobjektiv. Zwischen uns huschen die Gesichter der Autofahrer in rasender Verwirrung hin und her. Irgendwann gehe ich über die Straße und spreche ihn an.
Er ist sechzig Jahre alt und frisch pensioniert. Sein Name ist Shen Zhouyu, Onkel Shen. Er lebt in Ürümqi, der Hauptstadt von Xinjiang, nicht weit von Zhu Huis Heimatstadt, doch eigentlich ist er aus der Mitte des Landes, aus der Provinz Henan. Mit sechzehn Jahren verschlug es ihn in den Nordwesten, denn dort gab es Arbeit und Essen. Er wurde Mechaniker bei der Eisenbahn, und aus dem nicht sehr groß gewachsenen Bürschlein wurde ein Mann mit riesigen Händen, einem Brustkorb wie einem Fass und einer mächtig donnernden Stimme. Er hat über vier Jahrzehnte lang gearbeitet, hat geheiratet und zwei Söhne großgezogen, und als er endlich pensioniert wurde, kam ihm eine Idee: Er kaufte sich ein Trekkingrad und machte sich auf, um sein Land zu erkunden. Jetzt ist er auf dem Weg in den Süden. Von dort will er noch in den Osten und in den Norden.»Überallhin!«, ruft er, und seine Augen leuchten noch mehr als die von Wang Qin oder Zhu Hui. Er ist zwar nicht mehr jung, und an den Händen hat er dicke Schwielen von der Schufterei, doch sie stecken in Fahrradhandschuhen, und er weiß: Dieser Frühling gehört ihm.
Wir stehen lange zusammen und unterhalten uns, Onkel Shen und ich, und als wir uns endlich voneinander verabschieden, zieht die Dämmerung schon herauf. Eigentlich bedeutet das, dass ich gern so schnell wie möglich in die Stadt gelangen würde, um mir ein Hotel zu suchen, doch es gibt ein Problem: Ich kann nicht nach Wuwei, ohne zuvor die weißen Pagoden gesehen zu haben. Sie sind zwar schon seit Langem verfallen und durch Nachbauten ersetzt worden, doch der Ort, an dem sie stehen, ist zu bedeutsam, um einfach an ihm vorbeizugehen. Ich biege also von der Straße ab und suche mir einen Weg durch Felder und lehmige Dörfer. Als ich ankomme, ist der Ticketschalter schon geschlossen. Ich klopfe, und ein müde aussehender Mann erscheint und winkt mich hinein. Weit und breit sind keine Menschen zu sehen, ich bin allein. Ich schleiche zwischen den weißen Gebäuden herum, eigentlich sind es Stupas und keine Pagoden, es sind mehr als hundert, sie sind wie ein Wald. Die blaue Dämmerung bringt einen Hauch von Geschichte mit sich.
Dies ist der Ort, an dem sich im Jahr 1247 eine tibetische und eine mongolische Gesandtschaft trafen, um über das Verhältnis Tibets zu dem übermächtigen Reich des Khans zu verhandeln. Ich denke an bärtige Männer, in Felle gehüllt und säbelschwingend, die einander wichtige Worte zubrüllen und aus hölzernen Bechern Wein saufen, aber wahrscheinlich habe ich einfach zu viel Fernsehen geguckt. Es waren ernsthafte Verhandlungen, deren Ergebnis die Etablierung eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses war. Der Lama aus Tibet wurde Lehrer des Kaisers, und im Gegenzug durften die Mongolen die Herrschaft in Tibet stellen.
Im offiziellen Verständnis nicht nur der Volksrepublik, sondern auch der Republik China auf Taiwan wird dies als einer der Beweise für den eigenen Besitzanspruch auf Tibet gesehen. Es isteigentlich ganz einfach: Wenn man bereit ist, die mongolische Yuan-Dynastie als rechtmäßiges Kaiserhaus der chinesischen Geschichte anzusehen, dann wurde Tibet durch die Verhandlungen an diesem Ort nicht nur dem mongolischen Reich, sondern gleichzeitig auch ganz China einverleibt.
Natürlich gibt es Details, die gegen diese Logik sprechen, zum Beispiel die
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