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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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gewaltigen Mauerausbauten, die die späteren han-chinesischen Ming-Kaiser vornahmen, nachdem sie die Yuan-Dynastie zerstört hatten. Der Zweck dieser Bollwerke war es nicht, die Mongolen in einem gemeinsamen Land festzuhalten, sondern sie ein für alle Mal nach draußen zu verbannen. Nicht einmal handeln wollte man mehr mit denen, die man nur noch abfällig dazi nannte, »Tataren«. Und was war mit Tibet? Es ist umstritten, ob die tibetische Delegation von 1247 für ganz Tibet sprechen konnte, war sie doch eher die Gesandtschaft einer bestimmten tibetischen Kirche. Außerdem war der Einfluss der späteren Ming-Dynastie auf Tibet nur sehr begrenzt, und man beschränkte sich meist auf die Vergabe von Titeln und den Austausch von Geschenken.
    Der Himmel hat sich violettblau verfärbt, die ersten Sterne funkeln schüchtern aus ihm hervor. In einer Ecke finde ich die Ruine. Sie ist nur noch ein Stumpf, so groß wie ein Bus, aus bröckeligen Ziegeln und an einigen Stellen bewachsen. Dies ist das letzte der ursprünglichen Stupas, von denen niemand mehr genau weiß, wann sie gebaut wurden. Dann bemerke ich die Figuren: Sie sind klein und aus Porzellan und Metall, ein paar von ihnen sehen aus wie tibetische Bodhisattwas, andere wie Guanyin, die Gottheit der Gnade, und ein daoistischer Unsterblicher scheint auch darunter zu sein. Die Menschen haben sie mitgebracht und ihnen Plätze in der Ruine gegeben, in Nischen zwischen den Ziegeln.
    Diese Leute sind nicht aus geschichtlichen oder politischen Gründen hierhergekommen, sondern ihres Glaubens wegen. Sie haben kleine Statuen mitgebracht, um sie hier aufzustellen, undauf dem Weg haben sie sich nicht blenden lassen von den hundert neuen Stupas, für die man Eintritt zahlen muss und bei denen bereits die Farbe abblättert. Sie sind zielstrebig hierher zu dieser Ruine gekommen, haben ihre Figürchen aufgestellt und ein paar Gebete gemurmelt, und dann sind sie gegangen, ohne ein Zeichen davon zu hinterlassen, ob sie selbst Han-Chinesen waren oder Tibeter, Mongolen oder von allem ein bisschen.
    Ich brauche fast vier Stunden, um zu einer kleinen Ortschaft zu gelangen. Als ich mich endlich über die Ortsgrenze geschleppt habe, ist es weit nach Mitternacht, und sogar die Neonreklamen sind bereits ausgeschaltet. Ich finde kein Hotel und kein Gasthaus, noch nicht einmal einen Kiosk, also halte ich an dem einzigen Ort, an dem es noch etwas zu essen gibt: ein Lammspießstand, halb in einem Haus, halb auf dem Bürgersteig, trüb erhellt vom gelben Licht einer Glühbirne.
    Ich stelle mein Gepäck ab und setze mich an einen Tisch. Der Besitzer nimmt meine Bestellung auf und setzt sich zu mir. Nachdem er erfahren hat, was mich hierherverschlagen hat, überbringt er mir die schlechte Nachricht: Hier gebe es kein Hotel, sagt er, ich müsse noch bis nach Wuwei. Seine Frau nickt mitfühlend. Wie weit noch, frage ich, und er sagt: dreißig Li . Niedergeschlagen kaue ich auf meinen Spießen herum. Ich hoffe, die beiden werden mir irgendetwas anbieten, eine Pritsche im Hinterraum vielleicht, doch ich traue mich nicht zu fragen. Ein Mann taucht aus der Dunkelheit auf, setzt sich an den Nachbartisch und bestellt ein Dutzend Spieße. Sein Blick fällt auf mich, und er zieht ungläubig die Augenbrauen hoch. »Was macht denn der Ausländer hier?«
    »Der Ausländer kann Chinesisch«, antwortet der Besitzer lachend, und sofort sitzt der Mann an meinem Tisch.
    »Zhao«, sagt er. Er trägt eine Lederjacke und hat ein bulliges Gesicht. »Ich bin von der Regierung.«

EIN SCHATTEN NEBEN MIR
    Ich wache auf, als es an der Tür klopft. Es ist Herr Zhao, er sieht aus wie eine Eule.
    »Du bist ja immer noch hier!«, ruft er, und es hört sich an, als wäre das eine sehr schlechte Nachricht. Ich blicke auf mein Handy: Es ist kurz nach neun. Vor vier Stunden habe ich mich schlafen gelegt.
    Ich winke, um zu zeigen, dass ich verstanden habe, dann verschwindet sein Gesicht aus dem Türrahmen, und ich bin wieder in seinem Büro allein. Überall liegen Bierflaschen und Zigaretten herum. Es ist ein einziges Chaos.
    Gestern Abend hatte Herr Zhao mir angeboten, bei ihm im Rathaus zu übernachten, eine schulterklopfende Versicherung zwischen zwei Lammspießen. Ich musste nicht lange überlegen, denn ich fand die Idee lustig und wäre ohnehin nicht mehr bis Wuwei gekommen.
    Wenig später fand ich mich in einem kleinen Büro wieder. Draußen gähnten die Flure des Rathauses, drinnen saßen Herr Zhao und ich – und zwei

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