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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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Bauern. Beide trugen leicht ausgeblichene Sakkos und hüllten ihre Gesichter in Rauch. Ich saß auf der Pritsche, die Herr Zhao mir als Bett für die Nacht versprochen hatte, hielt einen Becher Orangenlimonade in der Hand und blickte immer wieder zum Fenster. Die Luft schmeckte wie ein in Tabak und Alkohol getränkter Schwamm.
    Am Anfang hatte es leichte Verstimmungen gegeben wegen meiner Weigerung, Alkohol zu trinken, doch mit jeder neuen Bierflasche waren sie leiser geworden. Die Trinkspiele gingen nahtlos ineinander über: Finger wurden in die Höhe gestreckt und Zahlen gebrüllt, Becher gehoben und die Köpfe entschlossen nach hinten geworfen, und die Augen wurden zunehmend glasiger.
    Der eine der beiden Bauern kämpfte offensichtlich mit dem Alkohol. Er hielt seinen Becher jedes Mal am ausgestrecktenArm vor sich hin und starrte ihn einen Moment lang an, bevor er dessen Inhalt hinunterstürzte.
    Erst als Herr Zhao mir den Weg zur Toilette zeigte, erfuhr ich, was eigentlich vor sich ging. »Die beiden haben einen Streit wegen ihrer Felder«, sagte er und schwankte ein wenig beim Pinkeln. »Sie sind Nachbarn, und der eine hat mehr Geld als der andere. So ist das heute in unserem Land.« Er drehte den Kopf zu mir herüber und lachte. »Und jetzt muss ich mich damit herumschlagen!«
    Die Straße nach Wuwei ist fast völlig gerade. Sie beginnt unter meinen Füßen und verjüngt sich bis zum Horizont, ein gelblicher Staubschleier liegt über ihr. Die Luft flimmert ein bisschen in der Hitze, die Wüsten sind nicht mehr weit.
    Ich schwitze.
    Die Sonne hat ihren höchsten Stand noch nicht erreicht, als ich einen Schatten neben mir bemerke. Ich drehe mich um und stehe vor einem jungen Mann im Fußballtrikot. Er ist spindeldürr. Mit seiner linkischen Haltung und dem Flaum auf der Oberlippe erinnert er mich ein wenig an die Hauswärter in meinem Beijinger Apartmentkomplex.
    »Hello«, sagt er auf Englisch und blickt mich missmutig an.
    »Hello«, antworte ich.
    Die Worte verhallen und machen einem Schweigen Platz, das gleichzeitig auch eine Frage enthält. Ich kenne sie bereits, sie ist bei fast jeder Begegnung die gleiche.
    »Wir können Chinesisch reden«, sage ich, und an seinem Lächeln erkenne ich, dass gerade eine schwere Last von ihm abgefallen ist.
    Er heißt Qi Yutian und will nächstes Jahr zur Universität. Zu welcher? Das hängt davon ab, wie seine Prüfungen laufen. Er lernt viel, hat keine Zeit für Mädchen und schaut gern europäischen Fußball. Die chinesischen Vereine seien ein Trauerspiel, klagt er, und aus seinen Worten klingt der gleiche Kummer, den ich schon so oft bei Xiaohei herausgehört habe: Wie kann essein, fragen sich Millionen fußballbegeisterter Chinesen, dass ein Volk, das ein Fünftel der Menschheit stellt, kein vernünftiges Fußballteam zusammenbringt?
    Einmal hält ein Motorradfahrer neben uns. Er lächelt freundlich und reicht mir die Hand, dann gibt er dem Jungen ein paar Scheine und knattert wieder davon. »Für die Rückfahrt«, erklärt mir Qi Yutian, nachdem er das Geld abgezählt und in seine Tasche gesteckt hat. »Mein Vater will, dass ich heute mit dir mitlaufe, damit ich Gelegenheit habe, Englisch zu sprechen.«
    Wir laufen fast zwanzig Kilometer zusammen, und manchmal, wenn die Wiesen links und rechts vom Straßenrand in der Sonne leuchten oder der Wind in den Pappeln rauscht, deutet mein Freund schüchtern mit dem Arm über das Land und sagt so etwas wie: »Meine Heimat ist so schön!«
    Am Anfang glaube ich ihm nicht. Es hört sich an, als habe er diese Worte in der Schule eingebläut bekommen und würde sie jetzt auf den ausländischen Gast loslassen: die schöne Heimat, die glücklichen Menschen, der Sozialismus chinesischer Prägung. Als ich ihn frage, ob er nicht lieber im Süden wohnen würde, wo der Winter nie richtig kalt wird und das Essen nach tausend Gewürzen schmeckt, schaut er mich erstaunt an. »Es gibt bestimmt Orte, die schöner sind als Wuwei, aber ich bin hier aufgewachsen. Jeder mag doch sein Zuhause am liebsten, oder nicht?«
    Ich denke an Juli und ihren Stolz auf ihre Heimat Sichuan, an Xiaohei, der jeden Tag in Beijing auf seine Arbeit schimpft und sich in den Süden zurückwünscht, an Zhu Hui, der außerhalb von Xinjiang kein Lammfleisch isst, weil nur in Xinjiang die Schafe richtig fett sind.
    Was ist mit meinem Zuhause? Wenn ich an Bad Nenndorf denke, sehe ich als Erstes das Grau des Himmels. Es hat alle Farben in sich aufgesogen außer das schwache

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