The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
uns«, sagt die Oma und lächelt, und ich habe keine Schwierigkeiten mehr, sie zu verstehen.
Vier Stunden später stehe ich fassungslos in der Wüste.
Eine lange, pappelbestandene Allee hat mich zu ihr geführt. Dort war alles grün. Links und rechts erstreckten sich Weizenfelder, dicke Halme nickten träge im Wind, die Welt war schattig und kühl. Dann kam die Linie, die eines vom anderen trennte: Grün von Gelb, Frische von Hitze, einen Windhauch von den stechenden Sonnenstrahlen, die Pappelallee von der Wüste.
Ich stehe im Staub, um mich herum ist nur glühendes Geröll, und ich fühle mich dumm. Warum bin ich nicht besser vorbereitet? Ich habe noch eine Flasche Wasser und einen Apfel im Rucksack, aber ich wage es nicht, sie hervorzuholen. Erst als ich in einigen Hundert Meter Entfernung die Autobahn erkenne, beruhige ich mich ein bisschen. Zur Not kann ich immer noch Hilfe holen.
Winzige Wölkchen schweben am Himmel. Die Schatten, die sie werfen, sind scharf umrissen und kühl, und ich bin jedes Mal dankbar, wenn sie einen Moment lang über mir verweilen.
Wenn ich an mein Zuhause in Norddeutschland denke, dannerscheint es mir fast immer milchig und grau, aber an dem Tag, an dem ich zu Fuß aus Paris eintraf, schien die Sonne. Die Welt hatte Licht und Schatten. Und sie duftete.
»Wie weit geht die Wüste noch?«, frage ich eine Gruppe Bauern, die mitten im Nirgendwo Heuballen auf einen Lkw verladen.
»Die Wüste?« Sie lachen. »Da kannst du noch lange laufen, die geht noch zehntausend Li !«
»Bis nach Xinjiang!«
»Bis nach Kasachstan!«
Drei Gesichter strahlen mich an voller Freude über das Ausmaß ihrer Einöde.
»Ich meine nur das Stück hier«, sage ich.
»Das hier? Zehn Li vielleicht.«
Fünf Kilometer also.
Anderthalb Stunden.
Als ich endlich wieder die Linie ins Grün überschreite, fühle ich mich ausgetrocknet. Ich lasse mich in den Eingang eines Hauses fallen, zerre die Flasche aus dem Rucksack und trinke sie in einem Zug leer. Kühle verteilt sich in meiner Brust und löst sich langsam auf. Zehntausend Li . Wie soll ich das schaffen?
Ich muss an die warnenden Stimmen denken: an meinen Vater, der mich ständig vor irgendetwas davonlaufen sieht, an meine Oma, die auf dem Grund ihrer Weinflasche erkannt haben will, dass ich in der Gobi den Tod suche. Und plötzlich ist da auch wieder dieser Abend in Beijing, an dem ich mit einem Regisseur und seiner Entourage in einem Restaurant saß und ihm dabei zuhörte, wie er meinen Plan verspottete. Vollkommen unmöglich sei es, erklärte er mir immer wieder voller Häme, durch die Gobi marschieren zu wollen.
Die Tür hinter mir geht auf, eine junge Frau kommt heraus. Sie erschrickt, als sie mich sieht, dann lacht sie. Ihre Schritte sind leicht, sie trägt ein Kleid, das aussieht wie der Sommer.
»Liegt noch viel Wüste vor mir?«, frage ich, und sie blickt einenMoment lang in die Richtung, in die ich deute.
»Ja, später schon, aber bis dahin ist es noch weit!«
Sie besteigt einen Motorroller, wirft ihn mit lautem Knattern an und braust davon, mit wehenden Haaren. Ich hole meinen Apfel aus der Tasche. Er duftet, und er schmeckt sehr süß.
Die nächsten Tage sind leicht. Ich stehe im Morgengrauen auf, laufe ein paar Stunden und lasse mich im Schatten eines Baumes auf den Boden fallen. Ich schlafe, dann gehe ich weiter. Die Straßen sind schattig, und wo sie nicht schattig sind, ist auf beiden Seiten Grün, und wo kein Grün ist, sind die Wüstenstrecken nicht länger als ein paar Kilometer.
Einmal begegne ich einem Motorradfahrer. Er kommt aus dem Nordosten des Landes, ist Psychologe und hat sich einen Monat freigenommen, um auf seiner roten Maschine quer durch China zu fahren. Auf meine Frage nach der Größe der Wüste antwortet er, das Wichtigste sei niemals das Land, sondern die Menschen. In Tibet hätten ihn einmal ein paar Finsterlinge fast vom Sattel gezogen.
»Vielleicht ging es darum, mich als Han-Chinesen zu verdreschen«, sagt er und grinst. »Wahrscheinlich wollten sie mich aber auch einfach nur ausrauben.«
Bevor wir uns voneinander verabschieden, gibt er mir noch einen Rat: Ich soll mich vor den Bienen in Acht nehmen. Er ist auf dem Weg in einen Schwarm hineingeraten und völlig zerstochen worden.
Bienen! Mich schaudert bei dem Gedanken.
BLITZABLEITER
Es ist meine eigene Schuld, dass ich am nächsten Tag nicht genug zu essen dabeihabe. Die Straße hat mich in ein Hochland geführt, in dem es laut Karte über fast vierzig
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