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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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uns.«
    Dann ist es still.
    Wir gehen weiter, die Luft flimmert, bis zum Horizont erstreckt sich nichts als gelbe Wüste. Wir sind allein, und jeder schleppt seinen eigenen Ärger schweigend durch die Hitze.
    »Lehrer Xie«, sage ich irgendwann.
    »Was?«, brummt er zurück.
    »Lehrer Xie, du weißt, du bist der Einzige, mit dem ich diese Dinge offen diskutieren kann, oder?«
    Er blickt mich misstrauisch an. »Wie meinst du das?«
    »Du bist doch mein Lehrer«, flöte ich, und der Anflug eines Lächelns verrät ihn. »Du hast so viel mehr erlebt und gelesen als ich, Lehrer Xie, und du betrachtest die Welt mit den Augen eines Philosophen! Dir kann ich alles sagen, ohne dass du deswegen sauer werden würdest!«
    »Kleiner Schurke!« Er holt eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche, zündet sich eine an und grinst. »Du bist sehr brav, aber es gibt wirklich viele Sachen, die du noch nicht verstehst!«
    Am letzten Tag, den wir zusammen laufen, bekommt Lehrer Xie noch einmal Gelegenheit, über mich zu lachen.
    Ich habe meinen Oberkörper frei gemacht, weil ich gern einbisschen gebräunt sein will, wenn ich Juli das nächste Mal sehe. Die Straße ist schmal, auf beiden Seiten liegt Geröllwüste. Lehrer Xie läuft hinter mir und macht ab und zu spöttische Bemerkungen. »Kleiner Schurke!«, ruft er. »Wenn ich deine Hüften sehe, bekomme ich Lust auf doppelt gegartes Schweinefleisch!« Und: »Was schwabbelt da so? Ist das Cola oder Schokolade?«
    Dann ruft er einmal etwas anderes. »Pass auf, ein Auto!«
    Ich höre Motorengeräusche und ziehe meine Kabutze ein Stück zur Seite, und im nächsten Moment rumpelt auch schon ein Lieferwagen vorbei. Er hat Holzkästen auf seiner Ladefläche, es müssen Dutzende sein. Und noch bevor ich begreife, dass es ein Imkerwagen ist, sind die Bienen schon überall.
    »Lehrer Xie!«, schreie ich, und in einer einzigen panischen Bewegung lasse ich die Kabutze fallen und sprinte, so schnell ich kann, in die Wüste hinein. Ich wedele mit den Armen, will die Bienen abschütteln. Meine Beine fliegen, der Geröllboden rast unter mir hinweg, ich muss aufpassen, dass ich nicht stolpere. Jedes Mal, wenn ich langsamer werden möchte, höre ich ein wütendes Summen hinter mir. Von irgendwoher ertönt Lehrer Xies schallendes Gelächter.
    »Was machst du da?«, ruft er zu mir herüber, als ich endlich angehalten habe. Ich kauere auf dem Boden, die Arme um die Beine geschlungen, fühle den Schweiß an mir herunterlaufen, meine rechte Wange pulsiert von einem Stich. Jedes Geräusch lässt mich hochfahren.
    »Ich habe Angst!«, brülle ich zurück.
    »Wovor denn? Vor den kleinen Bienen?«
    Ich kann sehen, wie er sich eine Zigarette anzündet und sich an seinen Karren lehnt. Er sieht völlig ruhig aus.
    »Komm zurück, kleiner Schurke«, ruft er, »die tun dir nichts!«

DER ZWERG UND DIE BLAUE GURKE
    Der Zug rattert in Richtung Jiayuguan. Mir gegenüber sitzt ein Mann, der Fertignudeln aus einem roten Pappbecher in sich hineinschlürft. »Fleisch auf Hongshao-Art«, steht darauf, und für einen Sekundenbruchteil blitzt das Porträt von Mao Zedong in meinem Kopf auf. Es war sein Lieblingsessen.
    Ich lehne den Kopf an die kühle Scheibe, draußen rast die Gobi vorbei. Je länger ich sie betrachte, desto fürchterlicher sieht sie aus: ockerfarben, trocken, endlos.
    Ich höre ein Rufen und sehe die Getränkeverkäuferin, die sich mit ihrem Wagen durch den Gang schiebt. Ich kaufe ihr eine Cola ab und halte sie gegen meine Schläfe. Mein Kopf pocht, die Wange ist geschwollen.
    Ich blicke zum Fenster hinaus und versuche mir vorzustellen, wie Lehrer Xie und ich durch die Landschaft dort draußen gelaufen sind, doch es gelingt mir nicht.
    »Leike«, sagte er beim Abschied, »du bist mein Lieblingsschurke! So ein großer Kerl, den ganzen Kopf voller Prinzipien, und dann läufst du vor den kleinsten Bienen weg – das ist mir sehr sympathisch!«
    »Du machst dich über mich lustig, Lehrer Xie!«
    »Nein, ich meine das ernst. Gib auf deinen Bruder acht, und sag ihm, er soll auch gut auf dich aufpassen!«
    Ruben. Ich schaue auf mein Handy. Da ist eine Nachricht von meiner Studienfreundin Liping aus Beijing: Sie hat ihn vom Flughafen abgeholt, in einem Hotel ausschlafen lassen und in einen Zug nach Jiayuguan gesetzt. Die Fahrt dauert dreiunddreißig Stunden.
    Ich trinke einen Schluck Cola. Draußen zieht die Gobi vorbei, sie wirkt wie ein versteinerter Ozean. Ich sehe ihre starren Wogen, und langsam wird mir klar,

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