The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
verwirrt.
Er zeigt auf mich und sagt: »Er ist mein jüngerer Bruder.« Und der Bauer, der uns bei sich beherbergt hat, guckt irritiert zwischen uns hin und her, bevor er das Problem einfach weglächelt.
»Passt auf, wenn ihr weiter nach Nordwesten geht«, sagt er. »Zwischen hier und Anxi ist nur Wüste!«
»Wie weit?«, frage ich, obwohl ich die Antwort schon aus dem GPS kenne.
Der Bauer runzelt die Stirn. »Hundertfünfzig Li werden es schon sein.«
Wir haben drei Melonen, mehrere Dutzend Liter Wasser, vier Fladenbrote und ein paar Dosen, gefüllt mit Mais und mit Bohnen in Tomatensauce. Der Akku des Handys ist voll, was bedeutet, dass wir Musik haben. Vor uns liegt die Weite der Gobi. Ich muss daran denken, wie fürchterlich sie vom Zugfenster ausgesehen hat.
Es ist eine schattenlose Welt. Gelber Staub liegt über der Straße, wir kommen an einer Reihe von Grabhügeln vorbei. Einmal zeige ich auf ein Rattenloch und sage, dass man die Tiere mit einer Plastikflasche fangen kann.
Lehrer Xie hat es mir am Ende doch erzählt: Man schneidet die Flasche in der Mitte durch, legt etwas zu essen hinein und vergräbt sie mit der geschnittenen Öffnung nach oben im Boden. Wenn die Ratte hineinfällt, kommt sie nicht wieder heraus, und man kann sie mit dem Messer abstechen und grillen. Ruben wendet sich angewidert ab, genau wie ich, als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte, und ich muss an das selbstzufriedene Lachen von Lehrer Xie denken.
Wir essen keine Ratten. Wir haben Mais aus der Dose und hinterlassen eine Spur aus Melonensaft auf dem Boden. Wir hören auch keinen Punk mehr, sondern Schlager. Bei »Wann wird’s mal wieder richtig Sommer« führt die Straße über eine Brücke auf die andere Seite der Autobahn. Oben an ihrem Geländer finden wir eine schattige Stelle, die perfekt ist, um Pause zu machen und unsere Aprikosen zu essen. Wir spucken ihre Kerneüber die Fahrbahn. Da ist ein Loch, wer es trifft, hat gewonnen. Ich treffe nie.
»Fleife«, sagt Ruben und lacht, und er hat recht: Ich bin eine Flasche und eine Pfeife in einem.
An diesem Abend übernachten wir in einer Siedlung, die nur aus einem halben Dutzend Häusern am Straßenrand besteht. Ein Kioskbesitzer bringt uns bei sich im Hinterhof unter, es ist ein fensterloser Raum mit einem Kang , einer Waschmaschine, einem Ventilator und einer Schnur, an der man zieht, um eine Glühbirne an- und auszuschalten.
Die Nacht ist finster und heiß. Wir schwitzen auf dem Kang , der Ventilator rattert, ohne Kühle zu spenden, und in der Dunkelheit schwebt ein einzelner roter Punkt. Er sieht aus wie ein weit entfernter Stern.
»Was meinst du, wie lange du noch laufen musst?« Rubens Stimme hört sich dumpf an in der Finsternis. Mir wird klar, dass der schwebende rote Punkt die Kontrolllampe der Waschmaschine sein muss.
»Zwei Jahre«, sage ich, »oder drei.«
Am nächsten Tag singen wir uns über eine Strecke von vierzig Kilometern hinweg. Es ist heißer als gestern, und die Lieder, die wir singen, handeln davon, wie es ist, in der Wüste zu sein und kacken zu müssen. Die Gurke ist klapprig, aber sie läuft.
Wir erreichen die Oasenstadt Anxi mit der Abenddämmerung. Sie schickt uns einen frischen Hauch und den Duft von Getreide und Bäumen. Wir sehen einen kleinen Bach und eine einzelne Mücke, die leuchtend im Licht der Taschenlampe tanzt.
Dann sehen wir zwei Mücken, dann drei und dann einen ganzen Schwarm. Sie fallen über uns her wie Schneegestöber. Ich schlage mir auf den Nacken und fühle mehrere Insektenkörper, die ich auf meiner Haut verreibe. Ich schreie Ruben zu: »Umziehen!«
Doch bevor wir unsere langen Hosen und Jacken herausgekramt haben, sind wir bereits völlig zerstochen und zerbissen.
Vielleicht ist unsere Ankunft in Anxi gerade deshalb so grandios. Wir haben tagelang nicht geduscht, unsere Kleidung ist schmutzig, und wir sind müde und übersät von Mückenstichen. Wir betreten die Eingangshalle eines großen Hotels und stellen die Gurke und die Kabutze ab, dann buchen wir ein Zimmer mit Bad und Klimaanlage. »Für wie viele Nächte?«, fragt die Rezeptionistin, und ich erwidere: »Erst mal für eine.«
Als wir die Zimmertür aufmachen und die weiße Bettwäsche sehen, tanzen wir vor Freude. Wir duschen, bis das Wasser sich nicht mehr von unserem Schmutz verfärbt, dann lassen wir uns in die weiche Kühle unserer Betten fallen. Wir haben Chips und Cola, und wir haben DVDs. Es ist perfekt.
Wir bleiben zwei Tage faul liegen, dann
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