The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
›Hier ruht ein liebes Tier.‹ Ich wusste ja nicht einmal, was es überhaupt war.«
»Und was könnte es gewesen sein?«
Er denkt kurz nach. »Nach dem, was die Leute sagen, muss es ein Schneeleopard gewesen sein.«
Ein Schneeleopard! Ich muss an meine Nacht am Liupan Shan denken, doch dann fällt mir etwas anderes ein. »Du hättest doch das Fell verkaufen können!«
»Ja, das hätte ich«, er blickt von seiner Schüssel auf, »aber ich wollte kein Geld an dem armen Tier verdienen, und ich selber konnte sein Fell nicht gebrauchen.«
Wir essen schweigend, ich kratze Bohnen aus einer Dose und denke an den Liupan Shan, da hebt er stolz die Hand und grinst mich an. »Einmal habe ich mir aber etwas mitgenommen – den Kopf von einem Yak!«
»Den Kopf von einem … wie hast du denn das geschafft?«
»Es lag tot an einem Seeufer. Da habe ich mit meinem Messer seinen Kopf abgeschnitten, das Fleisch abgelöst und ihn vergraben.«
»Das muss doch eine Heidenarbeit gewesen sein!«
»Ja, der Kopf war groß!« Er breitet die Arme aus. »Aber als ich Monate später dort vorbeikam und ihn wieder aus der Erde herausholte, war er so sauber, dass ich ihn an meinen Karren hängen konnte.«
Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, lacht er. »Er hängt jetzt in Ningbo am Haus meiner Mutter. Und seitdem suche ich nach einem zweiten.«
»Aber wozu denn?«
»Ich weiß auch nicht. Als ich einen hatte, wollte ich zwei haben.«
Stille.
Er bietet mir Wasser aus seiner Flasche an, doch ich trinke lieber mein eigenes. Ich weiß, dass er es sich aus Flüssen und aus Bächen holt, es hat eine leicht grünliche Färbung.
»Ist doch abgekocht«, sagt er und schlürft genießerisch, »außerdem ist das Wasser in dieser Gegend sehr gut. Und die Ratten sind auch fett.«
»Die Ratten?«
»Hast du ihre Löcher etwa nicht gesehen? Morgen zeige ich dir welche.« Er grinst. »Und wenn du brav bist, erkläre ich dir auch, wie man sie fängt!«
Als wir am nächsten Morgen das Lager abbrechen, liegt ein blauer Schleier über der Welt. Er taucht die Gobi in Unterwasserfarben, überall liegt Geröll, und manchmal wirkt es fast so, als würden wir auf dem Grund der Meere entlanggehen.
Einmal machen wir in einer kleinen Oase Rast. Bärtige, weiß bemützte Männer kommen uns entgegen, sie breiten die Arme aus, um uns willkommen zu heißen. Als ich frage, ob sie Hui sind, erfahre ich, dass sie zu den Dongxiang gehören. »Mongolische Moslems«, sagen sie.
Sie stellen sich als Hüter des Mausoleums von Wuaisi vor und sind sehr erstaunt, dass ich nicht weiß, wer das ist. »Wuaisi-ah«, rufen sie, »einer der Gesandten des Propheten!«
Wir sitzen unter einem Dach aus Weinreben. Fladenbrote liegen auf dem Tisch, einer der Männer hält ein Baby im Arm, das mich listig beäugt. Lehrer Xie hat sich mit seinem Karren in eine Baumlichtung zurückgezogen. Er will lieber lesen und Gedichte schreiben, anstatt sich von toten Moslems berichten zu lassen.
Ich trinke Tee und höre zu.
Drei Freunde habe der Prophet nach China geschickt, erzählen die Männer. Ihr Ziel war es, den Islam im Reich der Tang zuverbreiten. Doch der Weg über die Seidenstraßen war lang und beschwerlich: Der Erste der drei verstarb in den Bergen nordwestlich von hier, und der Zweite war Wuaisi, dessen Überreste an diesem Ort aufbewahrt werden. Der Letzte schaffte es schließlich bis in das chinesische Landesinnere. Er erreichte die Hafenstadt Guangzhou und errichtete dort eine Moschee. Damit hatte der Islam endgültig China erreicht.
Der Mönch Xuan Zang fällt mir ein. Die drei Moslems müssen fast gleichzeitig mit ihm auf den Seidenstraßen unterwegs gewesen sein. Doch während es ihn in den Westen zog, um dort alte Lehren zu suchen, wollten sie nach Osten, um dort neue Lehren zu verbreiten.
Als wir nach fast drei Stunden endlich wieder aufbrechen, sieht Lehrer Xie erleichtert aus. Er ist lieber in der Natur als unter Menschen.
Wir ziehen unsere Karren hinter uns her, die Wüste liegt unter ihrem blauen Schleier, es ist still. Er zeigt auf einen Hügel voller Rattenlöcher, und als ich ihn nach seiner Fangmethode frage, zieht er eine Augenbraue hoch und sagt: »Man muss sich zu helfen wissen!«
Einmal war er im Grasland der Inneren Mongolei unterwegs, als er von einem Hochwasser überrascht wurde. Er schaffte es, sich auf eine Anhöhe zu retten, und dort blieb er, während die Welt um ihn herum in den Fluten versank.
»Am ersten Tag hatte ich Angst«, sagt er und
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