Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
Vom Netzwerk:
warum sie mir viel weniger Furchteinflößend erschien, als ich zu Fuß in ihr unterwegs war: Ich ging in winzigen Schritten und sah nicht so viel auf einmal von ihr.
    In Jiayuguan gucke ich einen ganzen Tag lang im Hotelzimmer »MacGyver«. Die Stadt baut ein neues Stahlwerk und hat Spezialisten aus dem Ausland kommen lassen, das Hotel ist voller Deutscher. Sie sind schon seit Monaten hier, das Geld ist gut und die Stadt fremd. Ich spüre bei ihnen ein ähnliches Gefühl der Verlorenheit wie bei den drei jungen Engländern in Tianzhu.
    Am Abend landen wir gemeinsam in einer Bar: die deutschen Ingenieure, ihre philippinischen Freundinnen, eine Übersetzerin und ich. Es ist wie eine Art Generalversammlung aller Ausländer von Jiayuguan. Die Filipinas tanzen, die Deutschen halten Bierflaschen vor ihren Bäuchen, das Licht ist schummrig und die Musik laut. An der Wand hängt Reklame für Heineken.
    Ich proste den anderen mit meinem Cola-Glas zu, und dabei denke ich an die Wüste und an die Oasen, an die Große Mauer und an die Festung und daran, dass morgen mein Bruder Rubi kommt und ich ihm das alles zeigen werde.
    Ich bin fünfzehn Minuten zu spät am Bahnhof. Der Taxifahrer bringt mich dorthin, wo die Fahrgäste herauskommen. Ich sage ihm, er solle auf mich warten, und renne zum Ausgang. Überall sind Leute. Ich erblicke Koffer, Rucksäcke und die großen karierten Plastiktaschen, die auf keiner chinesischen Zugfahrt fehlen. Aber keine Spur von Rubi.
    Dann sehe ich ihn: ein großer schwarzer Rucksack, kurze Hose, Sandalen. Das orangefarbene Hemd kenne ich gut. Er steht auf der breiten Treppe vor dem Bahnhofseingang, die Hände in den Hosentaschen, und blickt auf die Stadt in der Dämmerung hinunter.
    »Zwergie!«, rufe ich.
    Manchmal vergesse ich, wie ich mittlerweile aussehe.
    Er mustert mich von oben bis unten, dann grinst er und sagt: »Alter, erst zu spät kommen und dann wie Chuck Norris aussehen!«
    Die nächsten Tage sind wie Urlaub. Wir bestellen Essen auf unser Zimmer und gucken DVDs. Wir hängen mit den deutschen Ingenieuren herum und besuchen die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Am Endpunkt der Großen Mauer bekommen wir Ärger, weil wir auf dem Lehmwall herumlaufen. Ein Mann ruft uns herunter und erklärt aufgebracht, dass wir Kulturgüter beschädigen, und weil ich weiß, dass er recht hat, und es mir unglaublich peinlich ist, tue ich so, als verstünde ich kein Chinesisch. »Verstell dich ruhig«, sagt er verächtlich, »ich habe dich am Bahnhof gesehen, du verstehst genau, was ich sage!«
    Als wir abends mit einem Taxi unterwegs sind, sehen wir eine Menschenmenge bei einer Verkehrsinsel. Die Leute sehen aus, als ob sie um eine Unfallstelle herumstehen, es sind sehr viele Menschen.
    Am nächsten Tag frage ich einen anderen Fahrer, was passiert ist, und er sagt: »Unfall, ein achtzehnjähriges Mädchen.«
    »Was ist mit ihr?« Ich muss an Lilly denken.
    »Von einem Besoffenen überfahren! Sie sollte in einer Woche in den Süden gehen, um dort zu studieren, und als sie mit ihrem Freund im Gras saß, raste der Betrunkene mit seinem Auto in sie hinein.« Er macht eine Pause und seufzt. »Ihr Kopf und ihr Körper lagen hinterher an verschiedenen Stellen.«
    Ich übersetze für Rubi, und als ich fertig bin, guckt mich der Fahrer im Rückspiegel an, und ich sehe Zorn in seinen Augen. »Weißt du, was das Schlimmste ist?«, fragt er und beantwortet die Frage gleich selbst. »Der Fahrer ist der Sohn von einem hohen Beamten!«
    »Oh«, sage ich.
    Er blickt mich prüfend an. »Du sprichst Chinesisch, also weißt du, wie es bei uns läuft, oder?«
    »Du meinst, er wird nicht bestraft?«
    »Natürlich nicht! Die Familie bezahlt ein bisschen Geld, das ist alles.«
    »O Scheiße.«
    »Ja, o Scheiße! Wenn ich daran denke, wie sich die Eltern vondem Mädchen fühlen müssen.« Seine Fingerknöchel auf dem Lenkrad werden weiß.
    Nach ein paar Tagen verlassen wir Jiayuguan. Der Zug rattert anderthalb Stunden nach Nordwesten, dann spuckt er uns in dem kleinen Ort Yumen aus. Er besteht aus ein paar Straßen und einer Ansammlung älterer Häuser. Wir gehen in das Hotel, in dem ich die Kabutze untergestellt habe. Es steht am Stadtrand, mit dem Rücken zur Wüste.
    »Meinst du, wir finden hier eine Gurke?«, fragt Ruben, und ich antworte: »Klar.« Doch auch ich habe Zweifel.
    Gurke – so nennen wir die dreirädrigen Transportfahrräder, mit denen viele der Bauern ihre Waren hin und her befördern. Vor zwei Jahren, als Ruben

Weitere Kostenlose Bücher