The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
lacht.
Damals trug er noch einen Rucksack. Seine Vorräte waren bald verbraucht. Er ernährte sich von dem Wasser um ihn herum und von den Wurzeln der Gräser. Und irgendwann fiel ihm ein, was der Arzt damals vor seiner Herzoperation zu ihm gesagt hatte: Entweder würde er den Operationstisch nicht lebend verlassen, oder aber er würde hundert Jahre alt werden.
»Verstehst du?« Er lacht. »Der Himmel konnte mich in dem Hochwasser nicht sterben lassen, weil meine Zeit noch nicht gekommen war!«
»Wie lange warst du eingeschlossen?«
Er hält eine Hand nach oben, legt den Daumen mit den anderen Fingern wie zu einem Schnabel zusammen.
»Sieben Tage?«, frage ich, denn auch die Gestensprache kennt verschiedene Dialekte.
Er nickt. »Eine ganze Woche lang.«
»Und was hast du in der Zeit gemacht?«
»Was soll ich gemacht haben? Ich habe Lieder gesungen.«
Wir laufen über eine Schotterpiste. Unsere Schritte machen ein satt knirschendes Geräusch, die Räder der Karren sirren leise. Einmal habe ich den Duft von Getreide in der Nase und sehe kurz darauf ein Feld – wir nähern uns einer Oase.
»Die Leute fragen mich oft, ob ich einsam bin«, sagt Lehrer Xie. »Weißt du, was ich dann antworte?« Er schaut mich mit blitzenden Augen an. »Ich frage sie zurück, ob sie selbst etwa einsam sind! Warum müssen sie mir solche Fragen stellen? Ich habe doch die ganze Welt für mich. Ich rede mit den Pflanzen und mit den Tieren, die Blumen lachen mich an, und die kleinen Vögel singen mit mir. Warum sollte ich da einsam sein?«
Ich lache und versuche es so wirken zu lassen, als wäre es bei mir ähnlich.
An diesem Abend kommen wir mitten in der Wüste an einer Raststation vorbei.
»Lass uns ein Zimmer nehmen!«, rufe ich begeistert.
Doch Lehrer Xie schüttelt den Kopf. »Mach das ruhig, aber ich schlafe lieber hier.«
»Dann komme ich mit.«
Er bleibt stehen und zeigt auf die Raststation. »Aber wolltest du nicht eigentlich da drinnen übernachten?«
»Ja, aber das geht doch nicht.«
»Warum denn das nicht?«
»Ich kann doch nicht in einem Bett schlafen, wenn du nebenan in deinem Karren liegst.«
»Und warum nicht?«
Ich überlege kurz. »Ich würde mir wie ein schlechter Freund vorkommen.«
Er guckt mich ernst an, dann lacht er laut auf: »Kleiner Schurke, du machst alles immer so kompliziert! Es ist doch ganz einfach: Du willst drinnen schlafen, weil das bequemer ist und du deine Elektrogeräte aufladen kannst, und ich will in meinem Karren schlafen, weil das mein Zuhause ist.«
Ich versuche noch etwas zu sagen, doch er winkt ab. »Du gehst da rein, und ich suche mir draußen einen Platz. Und morgen treffen wir uns wieder!«
Am nächsten Tag stehen wir auf der Straße und schreien einander an.
»Du verstehst das nicht!«, brüllt Lehrer Xie, und ich schmettere zurück, dass ich das sehr gut verstünde.
Um uns herum ist nichts als staubige Hitze, der Asphalt ist so heiß, dass er weich und ein bisschen schleimig ist, die Sonne prügelt auf uns herab, und wir schreien einander zornig an.
Es geht um Patriotismus.
»Leike!«, ruft Lehrer Xie entrüstet. »Wir Chinesen lieben unser Land, das ist einfach so!«
»Ach, und welches Land ist das? Die Innere Mongolei gehört dazu, aber die Äußere Mongolei nicht? Das heißt, ihr steht an der Grenze und liebt nur die eine Seite, aber die andere nicht? Das ist doch Quatsch!«
»Aber jedes Volk liebt doch sein Land!«
»Man kann sein Heimatdorf lieben oder die Berge allgemein, die Wüsten oder das Meer, aber doch nicht so etwas Künstliches wie ein Land.«
»Aber wir lieben doch all das!«
»Tut ihr nicht! Ihr sagt das nur, aber dann bewerft ihr euer Land mit Müll, reißt eure alten Gebäude ab und fahrt eure Mitbürger auf der Straße über den Haufen! Und dabei tut ihr so, als wäre alles perfekt!«
Er bleibt stehen, und einen schwitzenden Moment lang frage ich mich, welchen Anteil wohl das Brennen der Sonne an unserem Streit hat.
»Leike«, sagt er ernst. »Wir Chinesen wissen selbst, welche Dinge in unserem Land falsch laufen. Aber auch wenn China an vielen Orten verschmutzt ist und die Leute einander nicht gut behandeln, lieben wir es trotzdem.«
»Und warum könnt ihr dann nicht zugeben, dass manche Dinge verkehrt laufen?«
»Wenn wir unter uns sind, schimpfen wir über die gleichen Sachen wie du. Aber wir mögen es nicht, von Außenstehenden darauf hingewiesen zu werden.« Er dreht sich von mir weg, und ich höre ihn sagen: »Das verletzt
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