The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Gesundheit.«
Sie bringt mich zu einer Stelle hoch über dem Dorf und zeigt auf das Haus mit der Holzveranda. »Die Familie, bei der du wohnst, ist die erste, die sich dem Fortschritt geöffnet hat«, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch. »Sie sind jetzt die reichsten Leute im Dorf.«
Ich blicke über die Schlucht hinweg, über die Moschee, die unscheinbaren Häuser daneben und die Flammenden Berge im Hintergrund. Hühner gackern, jemand sägt etwas, es sind die stillen Geräusche des Dorflebens.
Ich bin nicht der einzige Gast. Als ich auf der Veranda vor einem niedrigen Tisch Platz genommen habe, kommt ein junger Mann dazu. Er hat ein weiches Gesicht und eine hohe Stimme, er stellt sich als Liu Wenqiang vor, Kunststudent aus Xi’an.
Er ist gekommen, um das Dorf zu malen.
Für meine Reise hat er Verständnis. Er sagt: »Es ist gut, sich Zeit zu nehmen.«
Die Wirtin bringt Nudeln und Tee, wir sitzen auf einem Teppich im Schein einer Glühlampe, um uns herum bereitet sich das Dorf auf die Nachtruhe vor.
»Ich beneide dich«, sage ich zu Liu Wenqiang, und er schaut mich verdutzt an.
»Worum denn?«
»Du kannst die Dinge so malen, wie du willst. Mit oder ohne Stromleitungen zum Beispiel.«
Er lacht. »Für meine Bilder ist das nicht so wichtig. Ich male Stimmungen.«
Er wollte schon immer Künstler werden. Aber seine Familie war arm. Mit vierzehn verließ er die Schule und suchte Arbeit. Er schuftete auf Baustellen und in Fabriken, je nachdem, wo er gerade Gelegenheit zum Geldverdienen fand. In seinen freien Stunden malte er und bewarb sich an Kunsthochschulen. Irgendwann schaffte er es tatsächlich auf die Akademie in Xi’an, und seitdem reist er immer wieder durch das Land, auf der Suche nach Motiven.
Ob ich schon einmal ausgeraubt wurde, will er wissen. Als ich den Kopf schüttele, lächelt er. Ihm sei es bereits mehrmals passiert. Wahrscheinlich, weil er so jung und harmlos aussehe. Aber irgendwann habe er gelernt, sich zu wehren.
»Wie alt bist du, kleiner Liu?«
»Einunddreißig.«
Ich verschlucke mich fast an meinem Essen. Er sieht aus wie Anfang zwanzig.
»Bist du verheiratet?«
»Nein.«
Wir verstummen und schlürfen unsere Nudeln.
Dann redet er weiter. Das Problem sei, dass ihn die Eltern seiner Freundin ablehnten. Sie sei Immobilienmaklerin und verdiene gut, er gebe das wenige Geld, das er habe, für Farben und Leinwände aus. Und sooft es ginge, ziehe er durch das Land.
»Aber sie weiß, dass ich nie lange am Stück fort bin und immer zu ihr zurückkomme«, sagt er.
Als ich mich am Morgen von dem alten Ehepaar verabschiede, dem das Haus mit der Veranda gehört, steht mein Freund, der Künstler, bereits vor seiner Staffelei. Ich stelle mich neben ihn. Sein Bild ist in einem großflächigen Stil gehalten, mit vielen Erdfarben und wenigen Details. Ich sehe das Dorf darin, so wie ich es kennengelernt habe. Mit seinen leisen Geräuschen, die sich anhören wie Musik.
Ich denke an die Moschee, die sich die Dorfbewohner gebaut haben. Bald werden sie sich vielleicht Digitalkameras und Laptops kaufen, wie ich sie mit mir herumtrage.
»Das Dorf verändert sich«, sage ich.
Und Liu Wenqiang nickt. »Alles verändert sich.«
IN RUINEN
Bei der Ruinenstadt Gaochang spielen uighurische Kinder. Einige von ihnen haben helle Haare, die ins Blonde übergehen. Sie lachen, als sie mich sehen, und ich lache zurück. Als sie erfahren, dass ich kein Uigurisch kann, dafür aber Chinesisch, fällt das Wort »A Gan« – Forrest Gump. Ich habe es lange nicht mehr gehört.
Die Sonne brennt heiß vom Himmel.
Ich gebe mein Gepäck beim Ticketschalter ab und betrete die viereckige Fläche der Ruinen. Sie sind braun und bröckelig, die meisten sehen nicht mehr wie Gebäude aus, sondern nur noch wie unförmige Lehmhaufen. Während ich in der Hitze herumlaufe, ist es für mich nur schwer vorstellbar, dass an diesem Ort einst die Hauptstadt eines Königreichs gestanden haben soll.
Der Mönch Xuan Zang blieb auf seinem Weg nach Indien längere Zeit hier, damals war Gaochang einer der glanzvollsten Knotenpunkte der Seidenstraßen. Jahrhunderte später wurde es durch die Mongolen derart vollständig vernichtet, dass sich hinterher offenbar niemand mehr die Mühe machte, es wieder aufzubauen.
Ich suche Schatten, und es gibt keinen. Eine Zeit lang laufe ich in dem brütenden, staubigen Rechteck herum, das einst die Stadt war, dann steuere ich seinen Mittelpunkt an. Dort stehen einige höhere Gebäude, eines sieht
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