The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Kamera zu besprechen. Aus dem Internet weiß ich, dass das Weitwinkelobjektiv einen Fabrikfehler hat, den man in Beijing umsonst beheben lassen kann.
»Sag mir einfach Bescheid, wenn du noch eine Stunde von Baoding entfernt bist!«, meint Xiaohei.
Ein Blick auf meine Füße ergibt, dass die Blasen entgegen meinen Vermutungen doch noch nicht geplatzt sind. Matt durchscheinend wie Perlen, thronen sie auf meinen Zehen und bewachen eifersüchtig das rosafarbene, wund gelaufene Fleisch, das unter ihnen pulsiert.
Der Alte guckt mitleidig. »Ein Messer in Alkohol tunken und damit aufstechen«, rät er und spricht jedes Wort langsam und überdeutlich aus. Wo der sich schon überall die Füße wund gelaufen haben mag? Ich nicke und bedanke mich für seinen Rat, dann ziehe ich mir vorsichtig die Schuhe wieder an und winke zum Abschied durch den Vorhang in der Tür.
Als wir abends in der Stadt ankommen, kann ich kaum noch stehen. Zhu Hui muss mich immer wieder antreiben. »Ein paar Schritte noch«, ruft er, wenn ich mich wieder an eine Hauswand gelehnt habe und nicht mehr vorwärtsgehen möchte. »Gleich treffen wir deine Freunde!«
Meine Beine sind Betonsäulen, und in meinen Schuhen fließt Metall.
Wir finden ein Zimmer, in dem die Fliesen gesprungen sind und die Farbe von der Wand blättert. Aber allein die Tatsache,dass es gut beheizt ist, reicht aus, um uns restlos zu begeistern.
Als Xiaohei mit seinen Freunden vorbeikommt, um die Kamera abzuholen, habe ich bereits meine Blasen aufgestochen und desinfiziert. Einige von ihnen haben angefangen zu bluten.
Xiaohei lacht, als er meine elektrische Zahnbürste sieht. Er benutzt einen Ausdruck aus dem Beijinger Jargon: Niubi , was, wortwörtlich übersetzt, »Kuhfotze« bedeutet. Es ist ein Wort, mit dem man sich vor Kumpeln anerkennend über etwas äußern kann. »Dieses Bier ist richtig Kuhfotze!«, könnte man zum Beispiel brummen und sich dabei zufrieden über den Bauch streichen, oder: »Alter, verträgst du viel Alkohol, du bist ja total Kuhfotze!«
Xiaohei hält meine Zahnbürste in der Hand, drückt auf den Knopf und schüttelt lachend den Kopf: »Du sturer Hund kannst kaum noch laufen, aber die elektrische Zahnbürste muss mit. Kuhfotze!«
In meinen Badelatschen humpele ich den anderen zum Abendessen hinterher.
Den nächsten Tag verbringen Zhu Hui und ich im Hotelzimmer mit Essen, Geschichtenerzählen und Tagebuchschreiben, und am Tag darauf nimmt er mich zu einer Schulmeisterschaft im Taekwondo mit. Es ist sehr angenehm: Entspannt humpele ich in der Sporthalle hin und her und mache Fotos von den Wettkämpfern in ihren weißen Anzügen. Mittags werden Zhu Hui und ich von den Veranstaltern zum Essen eingeladen, und ich bestelle einen Fisch, bekomme aber einen riesigen Fischkopf, mit dem ich nichts so recht anzufangen weiß. Alle lachen.
Am Abend kaufen wir uns ein gegrilltes Huhn, eine Tüte Chips, eine Palette Joghurts und zwei Flaschen Cola, und damit veranstalten wir ein letztes Festessen im Schein der Deckenleuchte unseres Hotelzimmers. Wir trinken auf die Drei Reiche und die Freundschaft und darauf, dass ich es möglichst schnell nach Westchina schaffe, damit wir wieder beim Feuertopf zusammensitzen können.
Und am nächsten Tag sagen wir einander Lebewohl. Wieder streift Zhu Hui seine Handschuhe über und rückt seine Mütze zurecht, wieder sagen wir einige Worte des Abschieds, und wieder folge ich ihm mit den Augen durch den Verkehr der Stadt, bis er zwischen den Autos verschwindet.
Dann setze auch ich mich in Bewegung. Doch die Blasen sind noch nicht verheilt, und nach nur ein paar Kilometern muss ich einsehen, dass ich noch nicht wieder laufen kann.
Als ich an einem günstigen Kellerhotel vorbeikomme, nehme ich mir ein Zimmer und lege die Sachen dort ab. Dann schicke ich eine Nachricht an die Zwillinge: Planänderung: Bleibe in Baoding. Kommt ihr?
LÖCHER
Als ich vier Tage später am frühen Morgen die Landstraße wiederfinde, hat sich ein barmherziger Nebel über die Welt gelegt. Er verschluckt alle Einzelheiten und macht Felder zu Ozeanen, in denen hier und da ein Bauernhaus auftaucht wie ein einsames Unterseeboot.
Ich bin froh, endlich aus der Stadt heraus zu sein.
Auf einer Brücke bleibe ich stehen und blicke in einen trüben Sumpf hinab. Er ist mit einer mehligen grünen Schicht bedeckt, auf der sich Laub und Unrat angesammelt haben, und an einigen Stellen ist ein vorwurfsvolles, schwaches Schimmern zu sehen. Hier muss einmal ein Fluss
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