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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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Reiche etwa nicht? Wo sich die Helden vom Pfirsichhain nach der verlorenen Schlacht wiedertreffen? Es war doch klar, dass ich zurückkomme, als du mir das geschickt hast!«
    »Feuertopf und Cola!«, jubelt Zhu Hui, als wir wenig später als einzige Gäste in einem Restaurant sitzen und der Dampf von unserem würzig brodelnden Sud die Fensterscheiben beschlagen lässt.
    Ich muss von meinen Erlebnissen der letzten Tage berichten, und mein Freund amüsiert sich königlich über das Dorf, in dem mich niemand in sein Haus lassen wollte: »Ist dir wirklich nicht der Gedanke gekommen, dass du einfach beängstigend auf die Leute wirken könntest?«, fragt er und muss auf einmal so laut lachen, dass die alte Oma, die in einer Ecke Gemüse schneidet, überrascht zu uns aufblickt. »Stell dir das doch mal vor: Da taucht so ein gigantischer Fremder vor deiner Tür auf und behauptet, er wolle in dein Haus, um irgendetwas mit seiner Kamera zumachen!« Zhu Hui ringt um Atem, und auch ich muss lachen. »Diese armen Menschen haben wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nie einen Ausländer gesehen, und dann kommst du und stehst mit deinem riesigen Rucksack vor ihrer Tür!«
    Als wir uns wieder einigermaßen beruhigt haben, frage ich Zhu Hui, aus welchem Teil Chinas seine Familie ursprünglich kommt.
    »Mein Vater kommt aus Shanghai«, sagt er und lässt ein paar Streifen Lammfleisch zwischen den Chilischoten im Topf untergehen. »Nach dem Koreakrieg wurde er als Soldat nach Xinjiang versetzt, um mitzuhelfen, die neuen Städte dort aufzubauen.«
    Ich stelle mir einen abgekämpften jungen Mann vor, der ähnliche Gesichtszüge hat wie mein Freund und von einem Armeelaster im Staub der Wüste Gobi abgeladen wird. Wahrscheinlich war dieses verordnete neue Zuhause mit seinen Sandstürmen und fremdartigen Bewohnern immer noch besser als die Erinnerungen an den Krieg. Doch der Gedanke an seine Heimatstadt, die Millionenmetropole am Unterlauf des Langen Flusses, die einmal wegen ihrer Boulevards und verwinkelten Gassen, wegen ihrer Tabakhäuser und Theater auch »Paris des Ostens« genannt wurde, muss nachts so manch sehnsüchtigen Seufzer aus dem jungen Mann hervorgelockt haben.
    »Das Leben war nicht einfach damals«, sagt Zhu Hui. »Während der Kulturrevolution ging mein Vater oft nach der Arbeit in die Berge, um für seinen Vorgesetzten Wild zu jagen. Im Krieg war er Scharfschütze gewesen, und die Nachmittage in der Natur waren für ihn eine Möglichkeit, sich den ständigen politischen Untersuchungen und Verhören zu entziehen.«
    »Wart ihr da schon auf der Welt?«
    »Ja, er hatte meine Mutter in Xinjiang kennengelernt. Sie war dort als Krankenschwester stationiert. Die beiden heirateten und bekamen zwei Söhne: Der Erste war mein großer Bruder, und der Zweite war natürlich ich!« Zhu Hui holt die Lammstreifen aus dem Topf und legt sie mir auf den Teller. Er grinst. »Aber als Sohn war ich leider eine große Enttäuschung!«
    »Warum denn das?«
    »Na ja, ich habe ja nicht einmal einen Hauptschulabschluss!«
    Ich bin sprachlos: Dieser Zhu Hui, der es so liebt, in gewählten Worten Anekdoten aus der chinesischen Geschichte zu erzählen, soll die Schule nicht geschafft haben?
    »Ich war einfach faul. Irgendwann bin ich beim Abschreiben erwischt worden und von der Schule geflogen. Es war eine Schande für die ganze Familie!«
    Die nächsten zehn Jahre verbrachte er in einer Baumwollfabrik, wo er jeden Tag Stoffe walkte, faltete und zuschnitt. Anfangs las er nur Comichefte, doch irgendwann begann er sich für Philosophie und Geschichte zu interessieren und fing an, Bücher zu lesen.
    Mit achtundzwanzig schmiss er die Arbeit hin und kaufte sich ein Zugticket nach Südchina, um in der Großstadt Guangzhou Vertreter für Arbeitsbekleidung zu werden.
    »Das war aber gar nicht so einfach«, lacht er, »zumal ich dort ja niemanden kannte!«
    Im ersten Jahr teilte er sich mit fünf anderen Leuten und Hunderten von Kakerlaken ein Zimmer, dessen Fenster notdürftig mit Plastikfolie geflickt worden waren. An manchen Tagen hatte er nur so wenig Geld in der Tasche, dass er auf dem Markt die Gemüseabfälle nach etwas Essbarem durchsuchen musste.
    »Diese Erfahrung war vielleicht die wichtigste meines Lebens«, sagt er, fischt ein Salatblatt aus dem Feuertopf und betrachtet es einen Moment lang. »Irgendwann verdiente ich zwar endlich relativ gutes Geld, doch nach mehreren Jahren im Süden war mir klar, dass ich wieder in meine Heimat

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