The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
zurückwollte.«
Mit dem angesparten Geld eröffnete er in der Stadt, die sein Vater mit aufgebaut hatte, ein Studio für koreanische Kampfkunst.
»Dabei konnte ich gar kein Taekwondo! Deshalb musste ich Trainer anwerben, die Unterricht bei mir gaben, und als die Geschäfte mit der Zeit erfolgreicher wurden, wollten sie natürlich mehr Geld. Leider war das mehr, als ich ihnen bezahlen konnte.«
Wieder stand Zhu Hui vor der Wahl: aufgeben oder weitermachen? Er hatte schon lange ein Interesse für Kampfkunst entwickelt und die Bewegungen abends vor dem Spiegel geübt. Als er vor der Wahl stand, entweder sein Studio zu schließen oder zu versuchen, so schnell wie möglich selbst Trainer zu werden, stand die Entscheidung für ihn fest: Er fuhr mit dem Fahrrad monatelang durch ganz China, besuchte Zentren und Meister, absolvierte Kurse und Seminare, und schließlich erhielt er seinen Trainerschein.
Mit vierunddreißig war er mit Abstand der älteste Absolvent seiner Klasse.
AUF BLUTENDEN FÜßEN
Am nächsten Morgen ist es im Zimmer so kalt, dass wir unseren Atem als kleine Wölkchen vor uns in der Luft sehen können. Wir putzen uns im Hof die Zähne und klatschen wie verrückt in die Hände, denn sie sind vom eisigen Wasser knallrot.
Zhu Hui grinst. »Kleiner Lei, heute bis nach Baoding?«
»Fünfunddreißig Kilometer, das schaffe ich niemals!«, protestiere ich. Ich denke an die Regeln, die ich mir für meine Wanderung überlegt habe. Jeder Meter muss zu Fuß zurückgelegt werden, lautet eine von ihnen. Doch mein Freund hat natürlich bereits einen Plan.
Wenig später sind wir wieder auf der Landstraße, und mein Rucksack sitzt diesmal nicht auf meinen Schultern wie der Scheich des Meeres, sondern fährt neben mir her: Zhu Hui hat ihn auf seinem Fahrrad festgeschnallt und sich vorgenommen, das Ganze bis nach Baoding zu schieben. So habe ich nur noch die Kameras auf den Schultern, und das Laufen fällt mir tatsächlich viel leichter, auch wenn die Blasen an meinen Zehen beijedem Schritt brennen wie Feuer. Zhu Hui legt ein beachtliches Tempo vor, und immer wenn ich kurz stehen bleibe, um ein Foto zu machen, muss ich mich hinterher anstrengen, um ihn wieder einzuholen.
Irgendwann verliere ich ihn dann ganz.
Ein leichter Nebel hat sich über die Straße gelegt. Ich stehe an einen Laternenpfahl gelehnt, hebe den rechten Fuß an und bewege die Zehen einzeln, um herauszufinden, ob das nasse Gefühl in meinem Schuh daher kommt, dass die Blasen geplatzt sind. In der Ferne kann ich Zhu Huis über das Fahrrad gebeugte Silhouette erkennen, doch dann schiebt sich ein Traktor dazwischen, und als der Blick wieder frei wird, ist von meinem Freund nichts mehr zu sehen.
Alle meine Sachen sind in dem Rucksack , denke ich und stelle überrascht fest, dass diese Tatsache meinen Puls kein bisschen schneller schlagen lässt. Noch vor ein paar Tagen wäre das mit Sicherheit anders gewesen: Zu deutlich kann ich mich an das Gelächter der Besitzerin des Hotels »Blaues Meer« in Liulihe erinnern, als sie mich dabei erwischte, wie ich alle meine Wertsachen mit in den Duschraum schleppen wollte, um nicht beklaut zu werden.
Ich stecke die Kopfhörer meines Handys ins Ohr und drehe ein altes Album von Dark Tranquillity auf. Das hilft: Während die Skandinavier Kaskaden über Kaskaden von Gitarrenläufen vergießen und Schlagzeuge und Stimmbänder zerstören, setze ich stoisch einen Fuß vor den anderen und bewege mich in Richtung Baoding voran. Ich fühle mich wie ein wandelnder Golem.
In einem kleinen Kiosk kaufe ich mir einen Eistee. »Haben Sie jemanden mit einem großen Rucksack ein Fahrrad vorbeischieben sehen?«, frage ich den Alten hinter dem Tresen, doch der schüttelt nur bedächtig den Kopf, während er mir mein Rückgeld abzählt. Es herrscht eine Atmosphäre der gedehnten Zeit: Eine Glühbirne verstreut orangefarbenes Licht von der Decke, an der Tür schirmt ein dicker Vorhang die Kälte und das Tageslicht ab, und in den Regalen stauben Getränkeflaschen und Chipstüten vor sich hin.
Ich deute auf einen Holzschemel in einer Ecke, und als der Alte einladend nickt, setze ich mich hin, drehe den Deckel der Flasche auf und lasse den kühlen Eistee in mich hineinlaufen. Mein Handy vibriert: Zhu Hui teilt mir lakonisch mit, dass er schon ein paar Kilometer vor mir ist und ich gefälligst schneller laufen soll. Mir fällt ein, dass ich noch meinen Freund Xiaohei in Beijing anrufen muss, um mit ihm den Plan zur Rettung meiner
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