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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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rüberkommen möchte?«
    Keine Antwort. Stattdessen fing das Mädchen an zu lachen. »Du bist ein Schwein, weißt du das?«
    »Warum?«
    »Ich dachte, du wolltest so etwas nicht mehr machen? Und dann gleich mit uns beiden?«
    »Könntest du dir das denn prinzipiell vorstellen?«
    »Ist doch egal, ob ich es mir vorstellen könnte, du machst so etwas ja sowieso nicht mehr!«
    »… und wenn doch?«
    Stille. Ich konnte mein Herz in der Dunkelheit schlagen hören. Draußen hupte ein Auto. Eine Zeit lang lauschte ich ihren Atemzügen und versuchte die meinen so gleichförmig wie möglich klingen zu lassen. Dann stand ich auf und ging die vier Schritte zu ihrem Bett hinüber.
    Zweihundert ehrenvolle Kilometer durch die Provinz, und innerhalb von nur vier Schritten stecke ich wieder im Sumpf , denke ich verächtlich und versuche mich an der Wand hochzuhangeln. Meine Hände sind lehmverkrustet, und der Boden unter mir gibt immer wieder nach. Mit dem riesigen Rucksack auf dem Rücken muss ich aussehen wie eine Schildkröte bei dem Versuch, die Terrariumwand zu erstürmen.
    Unter meinem Trekkingstock bricht ein großes Stück Lehm aus der Wand und poltert neben mir zu Boden, und ich höre mich durch die Zähne zischen: »Verfickte Scheiße!« Auf Händen und Knien stütze ich mich in der Lehmwand ab. Unschuldige Pflanzen lassen ihr Leben, weil sie mein Gewicht nicht halten können. Flüche und Verwünschungen untermalen meine jämmerliche Vorstellung.
    Ist dies die Strafe?
    Ich stehe vor einem völlig verdutzten Mann, der sich an einer Schaufel festhält und mich anstarrt wie eine Erscheinung. »Ausländer«, wiederholt er immer wieder leise zu sich selbst.
    »Tach!«, grüße ich und klopfe meine lehmverschmierten Hände an den Knien ab. Selbst die Innenseiten meiner Ärmel sind dreckig geworden, aber jetzt, da ich das Loch hinter mir gelassen habe, fühle ich mich schon viel besser.
    Der Bauer guckt mich mit offenem Mund an.
    »Tach!«, wiederhole ich noch einmal. »Wo geht es denn hier bitte zur Brücke von Fangshun?«
    Da findet er seine Sprache wieder: »Du … du kannst ja Chinesisch!«
    »Ach wo, ich kann nur ein paar Worte«, wehre ich ab, »also, wo ist denn nun die Brücke? Da soll es ein Hotel geben!«
    »Wo kommst du denn her?«
    »Aus Deutschland.«
    »Zu Fuß?«
    »Nein, aus Beijing!«
    »Aus Beijing? Und was hast du jetzt in der Lehmgrube gemacht?«
    »Ich wollte eine Abkürzung laufen! Aber um noch einmal auf die Brücke von Fangshun zurückzukommen …«
    »Die ist da hinten! Einfach an den Bahnlinien entlang, vielleicht noch zehn Li !«
    Zehn Li , also ungefähr fünf Kilometer. Das kann ich in einer Stunde schaffen, wenn nicht wieder ein Loch dazwischenkommt.
    »Nein, das hier ist die einzige Lehmgrube in der Gegend«, erklärt mir der Bauer. »Du musst aber jetzt nicht bis nach Fangshun laufen. Guck mal da hinüber!« Er zeigt auf eine lange Baumreihe am Ende des Feldes. »Dort hinten steht mein Haus, du kannst bei uns übernachten, kein Problem!«
    Ich bin gerührt: Jemandem ein Dach über dem Kopf anzubieten, der gerade grunzend einem Loch im Boden entstiegen ist, ist auch für die Maßstäbe chinesischer Gastfreundschaft mehr als großzügig.
    Trotzdem lehne ich ab. Ich muss mich waschen und meine Kleidung in Ordnung bringen, und ich möchte den Leuten nicht zur Last fallen. Außerdem brauche ich einen ruhigen Ort zum Schlafen, denn ich muss mir überlegen, ob ich Juli beichten soll, was in Baoding passiert ist.

NEBEL
    In dem kleinen Ort Wangdu, einen nebligen Tagesmarsch von der Brücke von Fangshun entfernt, steht eine uralte Kupferzypresse. Ihre Rinde schimmert silbrig, und eine Gedenktafel kündet davon, wie alt und ehrwürdig sie ist.
    »Stell dir vor, die wollen sie einfach umhauen!«, empört sich das kleine Mädchen, das mir den Weg durch das Labyrinth der Gassen bis hierher gezeigt hat. Sie deutet mit dem Finger auf die Baumkrone, die sich in tausend Korkenzieherwindungen über uns in den Himmel reckt und aus verschiedenen Richtungen mit Drähten in Position gehalten wird.
    »Wen meinst du mit die?«
    »Die Regierung natürlich«, antwortet sie trocken, und ich nehme überrascht die Kamera runter. Solche Worte hätte ich von ihr nicht erwartet. Sie sieht aus, als wäre sie ungefähr zwölf, und die Mischung aus Altklugheit und Trotz in ihrem Gesicht wirkt auf eigentümliche Weise sympathisch.
    »Vor ein paar Wochen wurde bereits ein ganzer Wald nicht weit von hier gefällt«, fährt sie fort

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