The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
gewesen sein, denke ich und wünsche mir einen Schaufelbagger.
Baoding war ein Fehler, von dem ich vorher wusste, dass er passieren würde. Wozu hätte ich mich sonst mit den Zwillingen verabreden wollen?
»Du hast dich ja total verändert!«, riefen die beiden Mädchen strahlend, als sie mich im Café »Obere Insel« erkannten. Sie waren in schwarze, bauschige Jäckchen aus Kunstfell gehüllt und hatten einen dicken Mann mitgebracht, der ununterbrochen grinste: Er war auserkoren, sie herumzufahren und für alles zu bezahlen, und machte sich wahrscheinlich Hoffnungen. Wohl doch auf die noch unverheiratete Jüngere, dachte ich.
Wir tranken Tee und plauderten über dies und das. Der Dicke hatte jüngst einem Freund ein Pferd abgekauft, und ich war gerade fast zweihundert Kilometer zu Fuß durch die Provinz gelaufen. Ob ich nicht lieber das Pferd mitnehmen wolle? Alle lachten, und die Ältere berührte wie zufällig mein Bein unter dem Tisch.
Ich habe die Straße verlassen. Ein schmaler Pfad zieht sich durch ein abgeschiedenes Reich aus Feldern und Obstbäumen, und die Straße mit ihrem Lärm und ihrem Rauch scheint sehr weit weg. Ich laufe an jungen Bäumen vorbei, deren Stämme bis in Hüfthöhe kalkweiß angestrichen sind, und lausche dem wohlig schmatzenden Geräusch meiner Schuhe auf dem feuchten Untergrund. Nur ab und an stört ein Zug mit seinem Dröhnen das Idyll, sonst ist weit und breit kein Mensch zu sehen.
Als ich nach ein paar Stunden hungrig werde, suche ich eine trockene Stelle, lege meinen Rucksack ab und breite die Isomatte aus. Viel zu essen habe ich nicht, aber eine Packung Kekse, etwas Wasser und eine Dose Wanglaoji -Kräutertee reichen aus, um mich satt und müde werden zu lassen. Ich suche die letzten Krümel von meiner Jacke, lehne mich zurück und falle in einen unruhigen Schlaf.
Später am Abend flüsterte mir die Ältere der beiden Schwestern zu, dass ich auch in ihrem Hotelzimmer übernachten könne. Sie sei allein. Ich heuchelte Überraschung und murmelte etwas davon, dass sie verheiratet sei, dann verabschiedete ich mich hastig und ging in die kalte, klare Nacht hinaus. Mein altes Lebenlag fast zweihundert Kilometer hinter mir, Juli war in Deutschland, und die Stadt Baoding schlief den unschuldigen Schlaf der Provinz.
Als ich bei meinem Kellerhotel ankam, war unter dem leuchtenden Neonschild, wo eigentlich die Tür hätte sein sollen, ein metallener Rollladen, der aussah wie ein Garagentor. Ich überlegte ein paar Minuten lang hin und her, und da weder Klopfen noch leises Rufen eine Änderung bewirkten, entschloss ich mich, in einen Kiosk auf der anderen Straßenseite zu gehen. Ich kaufte eine Packung Kaugummis.
»Ist das Hotel dort ab einer gewissen Uhrzeit geschlossen?«, fragte ich den Besitzer, der auf einem flimmernden Fernseher einen Kriegsfilm über die Zeit der japanischen Invasion ansah. Er schob mir, ohne aufzublicken, mein Rückgeld über den Tresen. »Ruf einfach die Nummer an, die über der Tür steht!«
Ich steckte mir eines der Kaugummis in den Mund und fühlte, wie sich sein künstliches Apfelaroma verteilte. In dem Film explodierte eine Granate in einem japanischen Bunker, und die Soldaten liefen durcheinander wie aufgescheuchte Hühner. Ich hatte eine Entscheidung getroffen.
Plötzlich stehe ich vor einem Loch. Es sieht aus wie ein riesiger Krater und reißt die Landschaft mehrere Meter tief auf. Wahrscheinlich ist es durch den Abbau von Lehm entstanden, denn unter mir ist ein geschwungener Pfad, der hineinführt, und an einigen Stellen wurden offenbar pyramidenartige Hügel ausgespart, um zu vermeiden, einer Reihe von Telefonmasten die Fundamente abzugraben. Ich bemerke, dass ich bereits in die weiche, lehmfarbene Welt unter mir hinabsteige, anstatt weiter dem Weg zu folgen, der oben um sie herumführt. Meine Schuhe sinken tief ein und hinterlassen bröckelnde Abdrücke im Boden.
Als ich unten angekommen bin, peile ich die Laufrichtung an und bemerke, dass der Boden an vielen Stellen bereits kniehoch mit wilden Ähren bewachsen ist. Hier wäre ein phantasti scher Ort für ein Nachtlager , denke ich, doch der Gedanke an Regengüsse und wogende Schlammfluten dämpft meinen Enthusiasmus.
Ich laufe mit vorsichtigen Schritten durch diese Welt, die tief und still ist wie der Grund der Ozeane und ockergelb wie ein ferner Planet. Währenddessen kommt auf der gegenüberliegenden Seite des Loches die Wand immer näher, und da scheint kein Weg zu sein, der nach oben
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