The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Asphalt ein Krater zu sehen sein muss.
Die anderen blicken mich erwartungsvoll an.
Ich überlege kurz. In meinem Ohr ist ein hohes Piepen.
»Okay!«, sage ich schließlich laut und strecke bekräftigend die Daumen in die Höhe. »Okay!«
Alle lachen zufrieden.
Als uns wenig später die Trauernden erreichen und ich unter den weißen Mützen einige Gesichter erkennen kann, die noch sehr jung sind, bleibt mir das Lachen im Halse stecken. Ich kenne diesen Blick: Man sieht mit ihm wie durch einen düsteren Flaschenboden auf die Welt, und man bekommt ihn unweigerlich, wenn man sich im Mittelpunkt von Zeremonien wiederfindet, von denen man immer geglaubt hat, dass sie einen selbst nie betreffen könnten.
Ich stecke die Kamera weg und bekreuzige mich. Dann warte ich ab, bis die Trauernden vorüber sind, und eile davon, setze einen Schritt vor den anderen, ohne nachzudenken, weiter auf meinem Weg nach Westen.
Der nächste Ort besteht aus nicht viel mehr als einer Weggabelung, ein paar Dutzend Häusern und einem Kraftwerk mit zwei riesigen, fetten Kühltürmen, doch heute bin ich nicht sehr wählerisch. Hauptsache, ich finde ein Zimmer, das einigermaßen warm ist.
Als ich ein Gebäude mit der Aufschrift HOTEL sehe, denke ich nicht lange nach und trete ein.
Im Innern herrscht eine Atmosphäre wie in einem Frachtschiff: Die Räume haben fast keine Fenster, die Decken sind niedrig, und zu allem Überfluss steht an der Rezeption auch noch die Nachbildung eines Steuerrads herum. Aber es ist gut beheizt, und die Dusche soll angeblich sogar rund um die Uhr heißes Wasser haben.
Ein paar Minuten nachdem ich meinen Zimmerschlüssel erhalten habe, stehe ich in Unterhose und Badelatschen an der Rezeption und will wissen, wo ich etwas Shampoo bekommen kann. Mein eigenes habe ich irgendwo verloren. Die Rezeptionistin, eine ältere Dame mit einer dicken Brille, kichert verschämt.
»Chef!«, ruft sie nach hinten. »Der Ausländer will Shampoo haben!«
»Der Ausländer??«, kommt es zurück.
Der Türvorhang raschelt, und eine junge Frau erscheint. Sie muss ungefähr in meinem Alter sein und ist mit ihren ebenförmigen Gesichtszügen und den wallenden Locken sicherlich eine der schönsten Töchter des Ortes. Und die ist hier also der Chef.
Sie mustert mich von oben bis unten.
»Woher weißt du, was er will?«, fragt sie die Rezeptionistin.
»Hat er mir doch gesagt!«
Zu mir gewandt: »Du willst also Shampoo haben?«
»Genau.«
Ihre Miene hellt sich auf. »Du sprichst ja Chinesisch!«
»Ein bisschen.«
»Super! Ich bin Frau Qi, und das hier ist mein Hotel. Warte, ich gucke mal, wo ich noch ein bisschen Shampoo für dich finde!«
Als ich aus der Dusche komme, sitzt Frau Qi in meinem Zimmer.
»Kennst du den Tee Bitan Piaoxue – ›auf dem saphirfarbenen See schwebt der Schnee‹?«, fragt sie lächelnd und deutet vor sich auf den Tisch, wo zwei zart dampfende Teegläser stehen. Der Schnee, erklärt sie mir, sind die hellen, duftenden Jasminblüten, die auf dem grünen Teewasser treiben. Ob wir uns ein bisschen unterhalten könnten?
Sie wartet, bis ich meine Duschsachen weggeräumt und mich ihr gegenüber hingesetzt habe, dann fängt sie an, mir Fragen über alles Mögliche zu stellen: was ich hier mache, wann ich nach China gekommen bin, wie lange ich in Beijing studiert habe, wie es mir dort gefallen hat, an welchen Orten ich schon überall gewesen bin, wo es für mich am schönsten war.
Nur einmal will mir keine richtige Antwort einfallen. »Sag mal, wie bist du überhaupt auf diese merkwürdige Idee mit dem Laufen gekommen?«, fragt sie in einem beinahe entschuldigenden Ton, während ich vorsichtig einen Socken über meinen rechten Fuß ziehe.
Automatisch leiere ich das Gleiche wie sonst auch herunter: dass ich schon immer von Abenteuergeschichten fasziniert war, dass ich früher einmal spontan von Paris nach Hause gelaufen bin und in den darauffolgenden Jahren noch durch den Norden Italiens und das Elsass. Dass ich mit Fotos und Texten meinen Weg dokumentieren will. Dass ich mich lebendig fühle, wenn ich laufe. Dann fällt mir noch etwas ein. »In China bin ich vorher auch schon gewandert: Kennst du den Fluss Li in den Bergen von Guilin?«
Ihre Augen blitzen. »Natürlich!«
»Daran bin ich einmal entlanggelaufen. Eine Woche lang: Berg rauf, Berg runter. Und ein anderes Mal bin ich bis zum östlichen Ende der Großen Mauer gefahren und von dort nach Westen gegangen, wieder eine Woche lang!«
»Du warst in
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