The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
die eine Hälfte besteht aus Soldaten«, sagt er lauernd, »und die andere Hälfte …« Er senkt die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern »… besteht aus Nutten!«
Wir glucksen vergnügt in uns hinein und verschlingen noch ein paar Teigtäschchen. Sie schmecken wirklich hervorragend, besonders wenn man sie in die rote Chilisoße dippt.
Zwischen zwei Bissen stelle ich ihm die Frage, die mich schon seit Beginn unseres Gesprächs interessiert. »Sag mal, du bist nicht von hier, oder?«
Er guckt mich entgeistert an. »Ich, von hier?? Wie kommst du denn darauf?«
»Hätte doch sein können!«
»Ach Quatsch! Warst du schon mal in Shanxi?«
Nein, aber insgeheim schaudert mich bereits beim Gedanken an die Berge. »Shanxi ist die Händlerprovinz westlich von hier, oder?«
»Ja, und außerdem ist es die Wiege der chinesischen Zivilisation!«
»Wirklich, ich dachte, das wäre die Gegend um Xi’an?«
»Ach was! Kennst du nicht das Sprichwort? Das China der letzten dreißig Jahre findest du in der Freihandelszone von Shenzhen, das der letzten hundert am Bund von Shanghai, das der letzten tausend in der Verbotenen Stadt von Beijing und das der letzten zweitausend in den Mauern von Xi’an. Aber das China der letzten fünftausend Jahre«, er blickt mich stolz an, »findest du im Hochland von Shanxi!«
Ich hätte ihn fragen sollen, wo genau er herkam und wie es dort aussieht, denke ich, als ich abends im Hotel meine Bilder sortiere und über den weiteren Reiseverlauf nachgrüble. Das Bergland von Shanxi ist noch drei oder vier Tagesmärsche entfernt, und ich habe keine Ahnung, was mich dort erwartet. Bisher bin ich nur auf nahezu schnurgeraden Straßen durch die Ebene gelaufen und habe trotzdem immer wieder einige Tage lang Pause machen müssen, um mich zu erholen und meine Füße verheilen zu lassen. In Shanxi dagegen ringelt sich die Straße in abenteuerlichen Windungen über die Karte, und ich kann mich jetzt schon unter dem Gewicht meines Rucksacks ächzen hören, wenn ich daran denke, was ich dort oben erleiden werde.
Auch schon auf dem Weg von Paris nach Hause waren die Berge das Anstrengendste: erst die Eichenwälder in den Ardennen, dann die Eifel und schließlich das endlose, verregnete Sauerland. Und diesmal habe ich mindestens dreimal so viel Gepäck dabei wie damals! Während ich noch darüber nachsinne, ob es nicht besser gewesen wäre, ein paar Sachen daheim zu lassen, fällt mir ein, dass ich in den Tiefen meines Rucksacks noch einen Adventskalender versteckt habe.
Zu meiner Erleichterung ist er nur an den Ecken ein bisschen eingedrückt: Das Bild mit den dicken Kindern beim Plätzchenbacken unterm Tannenbaum sieht noch genauso aus wie damals, als ich im Supermarkt gleich zwei davon kaufte; einen für Juliund einen für mich. Nicht einmal anderthalb Monate ist das her.
»Ich würde gern bei dir bleiben«, sagte ich zu ihr, als wir in ihrem Zimmer in München waren, »aber ich kann nicht.«
Sie lag auf dem Bett in den letzten Streifen der Nachmittagssonne und blickte mich mit einer Mischung aus Verwunderung und Kummer an.
»Dein Vater sagt, dass es eine schlechte Idee ist.«
»… und dass ich danach arbeitslos sein werde, aber das stimmt nicht! Ich trinke keinen Alkohol und rauche nicht, dafür spreche ich ein paar Sprachen und kann Fotos machen. Außerdem bin ich schon einmal durch Europa gelaufen, und die Leute interessieren sich für so etwas. Ich werde einen Blog schreiben, jeden Tag, ohne Ausnahme, du wirst schon sehen!«
Da war wieder ihr Juli-Lächeln mit den blitzenden schwarzen Augen: »Ach, du mit deinen Prinzipien!«
Ich platziere den Adventskalender auf dem Tisch und öffne die ersten fünf Türchen: Pferd, Mond, Tannenbaum, Auto und Nikolaus. Bevor ich mich versehe, habe ich sie alle aufgegessen, und ein seltsames Gefühl der Leere macht sich breit. Ich gucke ein bisschen fern, dann schreibe ich einen Eintrag auf meiner Webseite, in dem es um einen buddhistischen Mönch gestern in Zhengding geht: Er saß in seiner orangefarbenen Kutte neben einem Tempeleingang, hatte den Kopf gesenkt und war offensichtlich in irgendeine Meditation versunken. Ich schlich näher und machte ein paar Aufnahmen von dem Tempelgebäude, wobei ich ihn im Auge behielt, um ihn nicht zu stören. Er blieb absolut regungslos.
Irgendwann kam ich vor ihm zum Stehen. Da blickte er blinzelnd auf, ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und hielt mir ein Handydisplay vor die Nase. SETUP stand da. Auf
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