The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Shanhaiguan!«, ruft sie und klatscht in die Hände. »Und wie war das?«
»Anstrengend, aber schön.«
Sie wird nachdenklich. »Was sagt eigentlich deine Familie dazu? Dass du hier so … herumläufst?«
»Oh, mein Vater hasst es! Der möchte lieber, dass ich endlich meinen Universitätsabschluss mache.«
»Eine chinesische Familie würde dir das gar nicht erst erlauben, weißt du das?«, fragt sie lachend. »Und woher hast du eigentlich das Geld dafür?«
»Ich habe ein kleines Erbe.«
»Oh.«
»Nicht schlimm. Mein Vater ist gestorben, als ich drei Jahre alt war.«
»Aber hast du nicht gesagt, dass dein Vater …«
»Meine Mutter hat noch einmal geheiratet, und für mich ist es seitdem, als hätte ich einen Vater. Aber sag mal: Dir gehört also das ganze Hotel?«
»Ja, unsere Familie besitzt noch ein paar andere Geschäfte hier. Wenn du später etwas essen willst, zeige ich dir ein Restaurant gegenüber, das auch uns gehört. Dort ist es billiger und vor allem sauberer als anderswo!«
Die Jasminblüten haben sich inzwischen mit Wasser vollgesogen und sind auf die Teeblätter am Grund des Glases niedergesunken. Plötzlich spüre ich ihre Hand auf meinem Knie.
»Weißt du, ich würde auch gern weggehen«, sagt sie, und ihre Augen leuchten wie der Schnee, auf den die Sonne fällt. »Ich würde mich gern einfach in einen Zug setzen und losfahren, egal, wohin! Menschen kennenlernen und etwas von der Welt sehen, das würde ich gern!« Sie macht eine Pause. »So wie du.«
Sie zieht ihre Hand wieder fort und blickt auf ihre Fingernägel.
»Warum fährst du nicht einfach in den Urlaub?« Mir fällt wirklich nichts Besseres ein.
Sie lacht ohne besondere Heiterkeit. »Ich bin verheiratet. Und ich habe ein Kind.«
»So jung und schon verheiratet?«
»Sechsundzwanzig ist bei uns nicht mehr jung!«
Einen Moment lang beschäftigen wir uns damit, den Tee zu trinken und unsere Gläser zu betrachten. Auf meinem steht in dicken schwarzen Schriftzeichen der Name des Kraftwerkbetreibers.
Der Tee duftet blumig und hat einen leicht bitteren Geschmack, der nach dem Trinken ein zartes Blütenaroma hinterlässt.
»Sag mal ehrlich«, sagt sie unvermittelt und blickt mich aufmerksam an, »findest du unsere Gegend hier schön?«
Schön?! Vor Überraschung verschlucke ich mich fast an meinem Tee: »Also die Leute hier sind sehr nett«, sage ich hustend, »und das Essen ist auch sehr gut!«
Sie sieht nicht überzeugt aus. »Ich meine die Gegend , könntest du dir vorstellen, hier zu leben ?«
»Nun ja«, winde ich mich, »ich bin ja aus Deutschland und kann das schlecht beurteilen …«
Ihr Blick ist so vorwurfsvoll, dass ich mich sofort schäme. »Okay«, sage ich, »also auf dem Weg von Shijiazhuang hierher ist mir schon aufgefallen, dass die Umwelt ein bisschen in Mitleidenschaft gezogen worden ist!«
Ein Nicken.
»Aber das ist ja auch normal!«, füge ich hastig hinzu. »Das ganze Land macht große wirtschaftliche Fortschritte und braucht Unmengen von Rohstoffen – da ist es ja klar, dass nicht alles immer optimal verlaufen kann!«
In Shanghai glitzern die Wolkenkratzer einen halben Kilometer hoch in der Sonne, während hier alles schwarz ist , denke ich.
Sie muss meine Gedanken erraten haben. »Ab hier wird es noch schlimmer«, sagt sie düster.
»Noch schlimmer?« Ich bin sprachlos.
»Ja, wenn du morgen weitergehst, dann wirst du es sehen! Es gibt viele Orte auf deinem Weg, die so sind wie dieser hier. Und noch schlimmer.«
»Oh.«
»Macht nichts«, sagt sie und zwingt sich zu einem Lächeln. »Der Fortschritt erreicht auch uns langsam. Außerdem hast du recht: Wir sind sehr freundliche Leute!«
Da fällt ihr noch etwas ein. »Hast du eigentlich vor, auf deinem Weg das Steindorf zu besuchen?«
Was für ein Steindorf?
»Zeig mal deine Karte!«, sagt sie.
Ich klappe den Laptop auf, und ein Bild von mir und Juli erscheint, auf dem wir vor dem Centre Pompidou stehen und über eine Hüfttasche lachen, die ich damals immer umhatte und auf die ich sehr stolz war. Kurz nach diesem Foto gerieten wir auf den Champs-Élysées in einen so lauten Streit, dass die Menschen lieber vorsichtig einen Bogen um uns machten.
»Deine Freundin?«
»Ja«, sage ich, auch wenn es nicht ganz stimmt. Juli besteht darauf, dass wir nicht richtig zusammen sind, solange ich unterwegs bin.
Frau Qi schnalzt entzückt mit der Zunge: »Chinesin?«
»Aus Chengdu.«
»Oh, ein Pfeffermädchen aus Sichuan? Pass bloß auf, die sind nicht
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