Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
Vom Netzwerk:
Arbeit offensichtlich darin bestand, Kohle von einem riesigen Berg in ein Gerät zu schaufeln, das unter ohrenbetäubendem Rattern seinen Inhalt wieder auf einen anderen Haufen ausspuckte. Die Luft war voll schwarzer Staubkörner. Wenig später blieb ich entsetzt vor einem Kanal stehen, der eine milchig-türkise Farbe hatte und so dickflüssig wie Zahnpasta aussah. Zu meiner Überraschung war er völlig frei von jeglichem Müll, und ich vermutete, dass er alles, was in ihn gelangte, sofort hinunterzog und zersetzte. Im Hintergrund erhob sich die düstere Silhouette einer Fabrikanlage, und als mich mein Weg später dort vorbeiführte, entdeckte ich in einer Mauer ein winziges Loch, aus dem ein kalkweißes Bächlein entsprang. Es schien zu leuchten vor Giftigkeit.
    Hier oben jedoch ist es wunderschön: Es gibt keinen Schmutz und keine Fahrzeuge, die Luft ist frisch und klar, und das kleine Steindorf ruht seit über fünfhundert Jahren in einer Art toskanischem Idyll, das nur von ein paar hölzernen Strommasten durchbrochen wird. Ich kann kaum glauben, dass die Straße mit ihren Kohlegruben und ihren Lasterkolonnen nur ein Dutzend Kilometer von hier entfernt ist. Hier oben wirkt es, als hätte es sie nie gegeben.
    »Du weißt gar nicht, wie gut du es hast, du altes Mistvieh!«, sage ich zu dem Schaf, das immer noch dröge glotzend dasteht.
    Als ich mich erhebe, um meinen Rucksack aufzusetzen, duckt es sich hinter seiner Mauer und lugt erst wieder hervor, als ich schon ein paar Schritte in die andere Richtung gegangen bin.
    Zwei Stunden irre ich durch die Berge.
    Die Leute aus dem Dorf haben mich gewarnt, von hier aus weiterlaufen zu wollen. Es wäre besser, wenn ich zur Straße zurückginge, hieß es, denn ich würde den Weg nicht finden. Doch meine Entscheidung stand bereits fest: Wenn ich vom Steindorf aus in einer halbwegs geraden Linie nach Westen ginge, würde ich in ungefähr acht Kilometer Entfernung zwangsläufig wieder auf die Straße treffen. Außerdem: Was könnte mir denn schon passieren? Ich hatte schließlich mein GPS dabei!
    Seitdem habe ich keine Menschenseele mehr gesehen. Mein Weg führte mich zwar fast ausschließlich durch Täler, die dicht mit terrassierten Feldern bebaut waren, und in den Berghängen war auch die eine oder andere Ansammlung von Häusern zu sehen, aber die Einzigen, die überhaupt Notiz von mir zu nehmen schienen, waren immer nur die Hofhunde. Ihr Bellen begleitete mich mal lauter und mal leiser, mal gesund und kräftig und dann wieder schwächlich und heiser, manchmal wuterfüllt und manchmal so, als ob das Tier sagen wollte: »Hütet euch, dort draußen geht ein Fremder herum!«
    Und dann hörte auch das auf. Ab einem bestimmten Punkt wurde aus dem Feldweg ein Trampelpfad, und es gab keine Häuser mehr und auch keine Hunde. Das war kurz nach einem Stein, auf dem der Ortsname Zhangjinggou eingraviert war, »Brunnenschlucht der Zhang«. Darüber hatte jemand mit roter Farbe eine Warnung geschrieben: ORTSFREMDEN UND DENJENIGEN, DIE LÄNGERE ZEIT AUSSERHALB GEWOHNT HABEN, IST DER ZUGANG STRENGSTENS VERBOTEN!
    Hier gab es also ein Dorf, das anscheinend größtenteils von der Sippe der Zhang bewohnt war. Das war bei vielen Dörfern in dieser Gegend ähnlich, auch im Steindorf der Sippe von Yu, dessen Einwohnerschaft nahezu komplett auf einen bestimmten General aus der Ming-Zeit zurückging. Nur dass hier in der Brunnenschlucht der Zhang irgendetwas vorgefallen sein musste, das die Bewohner veranlasst hatte, niemanden mehr in ihr Dorf lassen zu wollen. Was für ein Drama mochte das wohl gewesen sein?
    Ich grübelte eine Weile darüber nach, dann ging ich weiter, denn ich wollte ja wieder zurück auf die Straße, die sich laut meinem GPS nur wenige Kilometer westlich von mir über das Land wälzen musste.
    Und jetzt stolpere ich hier auf einem Trampelpfad herum. Er führt durch ein hügeliges Gebiet, das von verwelktem Gras in den verschiedensten Brauntönen gefärbt ist, und es sieht so aus, als ob jeden Moment eine Horde mongolischer Reiter auftauchen könnte.
    Als ich die Kuppe eines Hügels erreiche, bleibe ich stehen und lausche, ob ich vielleicht etwas von dem Verkehr der Straße hören kann. Doch da ist nichts als der Wind, der sanft in mein Ohr flüstert, dass ich ganz allein hier oben bin. Enttäuscht blicke ich mich um: Ist hier überhaupt noch ein Weg? Und wenn nicht, wie lange habe ich ihn mir dann schon eingebildet?
    Ich spüre etwas Kühles auf meiner Stirn: Schnee. Er

Weitere Kostenlose Bücher