Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
Vom Netzwerk:
nur schön, sondern auch feurig!«
    Als ob ich das nicht längst wüsste!
    »Das Foto ist aber nicht in China entstanden, oder?«
    »Nein, das war in Paris. Sie geht in Deutschland auf die Universität.«
    »Moment mal!«, lacht Frau Qi. »Deine Freundin ist Chinesin und studiert in Deutschland, und du bist Deutscher und läufst durch China! Da stimmt doch was nicht?«
    »Der Plan ist ja, zu ihr zu laufen«, sage ich kläglich und öffne das Kartenprogramm.
    Frau Qi blickt mich amüsiert an und zeigt auf die gewundene Linie der Straße. »Okay, also: Morgen gehst du auf dieser Straße weiter bis nach Tianchang, das ist ungefähr eine halbe Stunde mit dem Auto.« Ihr Finger schwebt einen Moment lang suchend über dem Bildschirm, dann zeigt sie auf eine Stelle inmitten der Berge. »Und hier ist es: das Steindorf der Sippe von Yu!«
    Wir verabreden, dass mir am nächsten Morgen der kleine Sohn von Frau Qi vorgestellt werden soll. Pünktlich um halb neun springt meine Zimmertür auf, und ein kleines Energiebündel kommt hereingerannt, um mir als Allererstes die Zunge herauszustrecken. Ich bin begeistert. Als ich den Kleinen frage, wie alt er ist, kräht er: »Viereinhalb!« Dann grabscht er nach meinem GPS und drückt wie wild darauf herum.
    Während Frau Qi ihn noch scherzhaft ausschimpft, tritt der Ehemann ein: Er ist leicht dicklich, muss die vierzig überschritten haben und hat schlechte Zähne. Außerdem ist sein Gesicht aufgedunsen wie bei denjenigen, die zu oft dem Getreideschnaps zusprechen. Als er mir zur Begrüßung die Hand gibt, ist sie so labbrig und kalt, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Hallo, Gollum, denke ich, während wir einander gegenüberstehen und nicht so recht wissen, was wir sagen sollen.
    »Gruppenfoto?«, ruft Frau Qi, und wir eilen in die Eingangshalle, wo ich den vergnügt quietschenden Jungen kurzerhand auf die Schultern nehme. Die beiden Eheleute stellen sich rechts und links von mir auf, die alte Rezeptionistin kriegt den Auftrag, das Foto zu machen, und ich grinse in die Kamera. Während der kleine Junge sich an meinen Händen festhält und der Ehemann apathisch neben mir steht, kann ich das leichte Kitzeln von Frau Qis Haar auf meinem Unterarm spüren, und mir fällt auf, dass sie heute nicht nur eine modische Lederjacke und hochhackige Stiefel trägt, sondern auch ein besonders duftendes Parfum aufgelegt hat.
    Als ich wenig später wieder auf der Straße bin und eine lange Brücke beschreite, kommt mir ein Fahrradfahrer mit einem Korbvoller Äpfel entgegen, und ich schaue ihm aus irgendeinem Grund hinterher, bis ich in der Ferne noch einmal die Kühltürme des Kraftwerks erblicke. Ich beuge mich über das Geländer der Brücke, mein Blick senkt sich hinab, und in diesem Moment weiß ich, dass stimmt, was Frau Qi gesagt hat: Ab hier wird alles noch schlimmer.

VERLAUFEN
    Was jetzt? Ich sitze auf einem Treppenabsatz im Steindorf, kaue auf einem Mantou-Brötchen herum und überlege, ob es nicht doch klüger wäre, einfach wieder zurück zur Landstraße zu laufen. Ein Schaf hat seinen Kopf über eine Mauer gereckt und betrachtet mich. Es hat herabhängende Ohren und dumpfen Argwohn im Blick. Die Luft ist kalt.
    Heute Morgen bin ich in dem kleinen Ort Tianchang aufgewacht und habe einige Minuten lang den Anblick des Raureifs genossen, der die Verwüstungen im Tal bedeckte. Dann bog ich nach Süden ab und lief zwei Stunden lang auf einem kleinen Weg durch die Berge, um das Steindorf zu suchen. Mit jedem Schritt wurde die Luft besser, und die Landschaft wirkte natürlich. Es war schön, besonders nach all der Zerstörung, die ich in den letzten Tagen gesehen hatte.
    Frau Qi hatte recht behalten: Entlang der Landstraße wurde alles nur noch schlimmer. Als ich gestern Morgen von der Brücke hinunterblickte, sah ich einen großen Vogel – vielleicht einen Reiher –, der einsam seine Kreise zog, als ob er nicht recht wüsste, wo er landen sollte. Das Wasser unter ihm hatte eine verstörende Farbe, die mich an den Rost versunkener Schiffe erinnerte, und es war gesprenkelt mit Unrat. Am Ufer sah ichmehrstöckige Wohnhäuser. Sie waren durch ein gemauertes Fundament miteinander verbunden, das in regelmäßigen Abständen viereckige Löcher hatte. Aus jedem dieser Löcher zog sich eine braune Spur herunter und endete in einem großen, ungesund aussehenden Haufen. Es war, als ob diese Haufen an der Wand emporkriechen würden.
    Einmal kam ich an zwei keuchenden Menschen vorbei, deren

Weitere Kostenlose Bücher