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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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fällt so zart, dass es fast nicht wahrnehmbar ist, aber es ist definitiv Schnee. Na toll! Seit Wochen schon freue ich mich auf den ersten Wintertag, und jetzt begegne ich ihm hier draußen, wo ich am Ende wahrscheinlich noch an irgendeinem Abhang mein Zelt aufschlagen muss! Und morgen wache ich auf und blicke in eine Kristalllandschaft?
    Nein! Ich muss weiterlaufen, quer über die Hügel hinüber, wenn es denn sein muss. Ich korrigiere meinen Kurs etwas in Richtung Norden, dem Verlauf der Straße entgegen, dann gebe ich mir einen Ruck und stolpere vorwärts, immer der Peilung nach.
    Nach einer Weile scheine ich tatsächlich Glück zu haben: Der Trampelpfad verbreitert sich und wird zu einem Weg, und aus der unberührten Hügelwelt wird irgendwann ein Tal, das auf beiden Seiten in Parzellen eingeteilt ist. Als ich Traktorspuren finde, die von der Nähe der zivilisierten Welt künden, stoße ich einen Freudenschrei aus. Die Straße kann nicht mehr weit sein!
    Meine Begeisterung erhält einen jähen Dämpfer, als ich mit einem Mal in einen Tunneleingang blicke, der mir aus einer Bergflanke entgegenklafft. Er sieht aus wie ein düsterer Schlund. Ich drehe mich suchend um, doch da ist kein Zweifel: Der Weg führt eindeutig in diesen Tunnel hinein. Aber sehr vertrauenerweckend sieht er nicht aus. Die zerklüftete Decke ist nur wenig höher als ich, stellenweise sogar etwas niedriger. Ein Traktor würde wahrscheinlich gar nicht hier durchpassen, und auch ich müsste auf der Hut sein, um mir nicht den Kopf zu stoßen oder mich in einem Spinnennetz oder anderem Ungeziefer zu verheddern.
    Andererseits: Tief in der Schwärze ist ein winziges Licht wie von einer entfernten Öffnung zu sehen, und ich meine, kaum hörbar die Geräusche der Straße vernehmen zu können. Und wozu sollte sich jemand überhaupt die Mühe machen, einen solchen Tunnel aus dem Berg zu schaufeln, wenn es auf der anderen Seite nichts Lohnenswertes gäbe?
    Ich hole meine Stirnlampe aus der Tasche. Dann laufe ich in die Schwärze hinein, dem dumpfen Hall meiner Schritte hinterher.
    Als ich auf der anderen Seite wieder in die Freiheit komme, brauche ich einen Moment, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben. Vor mir klammert sich eine Siedlung an den Berghang. Mit ihren geschwungenen Dächern und dem groben Mauerwerk sieht sie dem Steindorf nicht unähnlich, und ein schwerer Duft kündet davon, dass jemand in der Nähe gerade etwas zu essen macht. Wie köstlich!
    Ich bin noch damit beschäftigt, meine Stirnlampe zu verstauen und mich darüber zu freuen, dass ich endlich wieder unter Menschen bin, als ein vielstimmiges Geheul ertönt: Eine Gruppe kleiner Jungen hat mich entdeckt und sprintet auf mich zu. Basketbälle und johlende Rufe fliegen durch die Luft, und innerhalb von Sekunden bin ich umringt wie ein Clown auf einem Kindergeburtstag.
    »Wo kommst DU denn her, Onkel?«, kommt es kichernd unter einer Baseballkappe hervor. »Du hast dich ja total schmutzig gemacht!«
    Ein anderer fragt ungläubig: »Bist du wirklich durch den Tunnel gegangen??«
    Doch mir bleibt gar keine Zeit zum Antworten. Mit einem sirrenden Geräusch schnellt mir von irgendwo ein grünes Jojo entgegen, und mehrere kleine Hände betasten bereits meinen Trekkingstock.
    »Guckt mal, Leute, der ist ein Skifahrer!«
    »Cool!!«
    »Und das Handy sieht auch voll komisch aus!« Sie zeigen auf mein GPS.
    Als ich irgendwann dazu komme zu erklären, dass ich nicht Ski fahre, sondern zu Fuß aus dem Steindorf in den Bergen gekommen bin, glauben sie mir natürlich kein Wort.
    »Du bist Ausländer und hast kein Auto??«
    »Und was für ein Steindorf meinst du überhaupt?«
    Sie tauschen verwirrte Blicke untereinander, als ob ich gerade etwas absolut Sinnloses gesagt hätte. Schließlich zieht der mit der Baseballmütze belehrend seine Augenbrauen hoch und deutet auf die Siedlung hinter sich. »Ein Dorf aus Stein? Aber Onkel! Dörfer sind doch überall aus Stein!«
    Wenig später bin ich wieder auf der großen Straße und stelle überrascht fest, dass ich tatsächlich so etwas wie Freude empfinde, wieder in dieser Welt der Kohlehaufen und der röchelnden Lastkraftwagen zu sein. Wenigstens muss ich jetzt nicht draußen schlafen, und etwas zu essen wird sich hier auch schon finden lassen. An einem kleinen Kiosk kaufe ich mir eine Dose Cola und einen Schokoriegel, und dann stolpere ich vergnügt den Abgaswolken der sich stauenden Fahrzeuge hinterher, während der erste Schnee des Jahres

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