The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
frage ich.
Opa Liu überlegt einen Moment. »Es ging um die richtige Auslegung der Worte Mao Zedongs. Die Frage war, wer ihn richtig verstanden hatte.« Er seufzt. »Das könnt ihr im Ausland vielleicht nicht nachvollziehen.«
Die Kulturrevolution war so etwas wie das letzte Aufbäumen des greisen Mao. Bis zur Mitte der Sechzigerjahre hatte er nach seinem gescheiterten »Großen Sprung nach vorn« viel von seinem Nimbus als Steuermann eingebüßt – und nun musste er dabei zusehen, wie seine Genossen in Beijing begannen, ihre Politik ohne ihn zu machen. Da erfasste ihn ein tiefer Groll. »Nieder mit allem Alten!«, rief der über Siebzigjährige der Jugend zu, in der Hoffnung, seine Widersacher innerhalb der Partei dadurch verjagen zu können.
Und die Jugend erhörte seinen Ruf.
Zehn Jahre lang fegte ein Sturm über das Land. Die wütenden Kinder Maos fingen bei ihren Lehrern an und prügelten sie aus den Schulen und Universitäten, und der Große Steuermann sah zu und klatschte begeistert in die Hände. Dann nahm man sich die Intellektuellen und die alten Kader vor. Viele wurden erschlagen, und diejenigen, die nur wie Deng Xiaoping aufs Land verschickt wurden, um dort den Bauern zur Last zu fallen, konnten noch von Glück reden.
Das Land war vollgeklebt mit Postern, auf denen sich die Menschen gegenseitig denunzierten. XY ist ein Revisionist und Feind der Revolution!, war auf solchen Postern zu lesen, oder: YZ hat ein außereheliches Verhältnis! Kaum eine Stadt, kaum ein Dorf, in dem die Götter nicht umgestürzt und ihre Tempel nicht geschändet wurden. Zhou Enlai, Premierminister unter Mao Zedong und in seinem vorrevolutionären Leben Austauschstudent in Frankreich und Deutschland, konnte die Verbotene Stadt in Beijing nur unter Einsatz der Armee vor Plünderungen schützen.
Eine Frage beschäftigt mich schon länger. »Sag mal, Opa Liu, stimmt es wirklich, dass es Jiang Qing und ihre Leute waren, die die Kulturrevolution gemacht haben?« Das ist die offizielle Version der Geschichte. Der samtbezogene Toilettensitz im Museum fällt mir wieder ein.
Opa Liu blickt mich mit einem verwunderten Gesichtsausdruck an. »Natürlich, dafür wurden sie doch verurteilt!«
»Jiang Qing war Maos Frau, oder?«
»Ja, und?«
»Ich meine, hätte er sie nicht aufhalten können, wenn er wirklich … gewollt hätte?«
Er legt den Kopf schräg. »Mao Zedong«, sagt er und fügt einen lang gedehnten ah- Laut hinten an, »Mao Zedong-ah … der war damals schon ein sehr alter Mann.«
PLASTIKBÄUME
Nach zwei Tagen auf Höhenwegen sind Staub und Kälte tief in meine Kleidung eingedrungen, und ich sehne mich nach nichts mehr als nach einer heißen Dusche und einem sauberen Bett. Ich stolpere über eine riesige gepflasterte Fläche, für die ich aus irgendeinem Grund Eintritt bezahlt habe, und eine Fremdenführerin stolziert vor mir her. Müde, wie ich bin, folge ich ihr eher aus Pflichtbewusstsein denn aus echtem Interesse.
Als wir an einem großen Baum in der Mitte des Platzes ankommen, macht die Dame halt, streckt den Arm nach oben und blickt mich erwartungsvoll an. »Der Große Schnurbaum von Hongtong!«, verkündet sie mit übertriebenem Pathos in der Stimme.
Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte den Baum. Mit seinem dicken Stamm und der mächtig ausladenden Krone könnte er auch ein Bonsai sein. Ein größenwahnsinniger, über zwanzig Meter in die Höhe geschossener Bonsai.
»Schön … groß«, befinde ich, um überhaupt etwas zu sagen.
»Ja, es wurde sehr auf größtmögliche Originaltreue geachtet!«
»Originaltreue?«
»Der echte Große Schnurbaum wurde leider vor mehr als dreihundert Jahren bei einem Hochwasser fortgerissen!«
»Und dann hat man einen neuen gepflanzt?«
»Ja«, sie blickt mich überrascht an und zeigt mit dem Finger in eine andere Richtung des Platzes, wo absolut nichts zu sehen ist, »dort drüben wächst er – jetzt schon in der dritten Generation!«
Ich bin verwirrt. »Aber was ist dann das hier?«
»Das hier? Das ist natürlich nur eine Nachbildung!«
»Eine Nachbildung?«
»Ja. Dieser Baum ist aus Plastik.«
Eine Plastikpflanze, höher als ein Haus? Mein Lachen schallt weit über den Platz. Bevor sie sich wehren kann, hat die Fremdenführerin meine Kamera in der Hand und muss Fotos von mir machen, während ich unter dem Ungetüm herumhüpfe und immer wieder begeistert rufe: »So riesig und ganz aus Plastik!«
Sie kichert verschämt mit.
Unterdessen muss ihr aufgegangen
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