The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
standen nebeneinander auf dem Deck einer Fähre, und um uns herum war alles leuchtend grün: der Fluss, die Ufer, sogar das Schiff war tiefgrün gestrichen. Als ich das Mädchen nach ihrer Heimat fragte, lachte es und sagte, sein Dorf sei eigentlich ganz in der Nähe. Aber ihre Familie werde gerade umgesiedelt, wegen des Großen Staudamms.
Und wo würde ihr neues Zuhause sein?
Sie nannte einen Ort in der Provinz Guangdong, über tausend Kilometer entfernt.
Tut mir leid, sagte ich und meinte es ehrlich. Ich hatte noch nie jemanden kennengelernt, der umgesiedelt worden war.
Sie guckte mich nur überrascht an und lächelte.
Dann legte das Fährschiff an, und sie war verschwunden.
In der Nacht finde ich wenig Ruhe. Ich habe mir zwar den Schmutz mit heißem Wasser heruntergeduscht und ein bequemes Bett gefunden, doch irgendwann werde ich von lautem Geschrei aus dem Schlaf gerissen. Mein Herz klopft, und es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass es nur jemand ist, der in betrunkenem Zustand auf dem Flur nach dem Zimmermädchen ruft. »Bedienung!«, schreit er immer wieder. »Bediiiiieeenung!!«
Doch die Bedienung kommt einfach nicht.
Ich fühle, wie der Zorn in mir aufsteigt, obwohl ich mich eigentlich nicht aufregen möchte. Ruhig und geduldig möchte ich werden, ein sanftmütiger Wanderer. Ich ziehe den Reißverschluss meines Schlafsacks auf, denn plötzlich ist mir heiß.
»Bedienung!«, schreit der Mann vor der Tür.
Noch einmal, und ich fresse dich , denke ich.
»Bediiiieenung!!«
Stille. Ich lausche angestrengt in die Nacht, dann ziehe ich entnervt den Reißverschluss wieder hoch. Beinahe bin ich ein bisschen enttäuscht.
Doch der Mann hat nur Luft für einen neuen, noch lauteren Schrei gesammelt. »BE-DIE-NUNG!!!«, brüllt er.
Innerhalb von Sekunden stehe ich vor der Tür. Mein erster Blick fällt auf einen dürren Mann mit glasigen Augen, der sich kaum noch auf den Füßen halten kann. Er hält sich an einem Geländer fest und brummt etwas vor sich hin, während eine junge Frau mit einem Schlüsselbund in der Hand eilig die Treppe heraufgelaufen kommt: das Zimmermädchen, jetzt also doch. Beide blicken mich überrascht an. Ich schäume vor Wut.
»Was soll denn das, hier so herumzuschreien!!« Für einen peinlichen Sekundenbruchteil denke ich, dass meine Stimme wahrscheinlich noch um einiges lauter ist als seine.
Er hangelt sich unwillkürlich einen Schritt zurück. Das Zimmermädchen guckt entsetzt.
Doch ich bin noch nicht fertig: »Die Leute wollen schlafen, und du schreist hier herum?!«
Er hebt erklärend die Hand: »Ich äh … habe meinen Schlüssel vergessen und …«
»Dann geh gefälligst zur Rezeption! Was soll denn das, hier einen solchen Krach zu machen?!«
Das Zimmermädchen versucht zu beschwichtigen. »Entschuldigen Sie bitte, das ist alles meine Schuld«, säuselt sie. »Aber jetzt können die beiden Herren doch wieder in Ihre Zimmer …«
Ich zeige auf den Übeltäter und will noch etwas sagen, dochmir fällt nichts mehr ein. Wütend balle ich die Finger zur Faust. Sie hat ihm unterdessen seine Tür aufgeschlossen, und er torkelt mit einem Ausdruck von ignoranter Selbstzufriedenheit hinein. Sanft schmatzend, fällt die Tür hinter ihm ins Schloss.
»Wollen Sie nicht auch wieder ins Bett gehen?« Das Zimmermädchen blickt mich fragend an.
»Aber wenn er wieder …«, fange ich an, doch dann drehe ich mich um und lasse sie mit einem gehässigen »Ach egal!!« stehen. Irgendwie ist es ja auch alles ihre Schuld. Warum ist sie nicht schon früher gekommen?
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass meine Tür zugefallen ist und sich der Schlüssel nicht in meiner Hosentasche befindet, sondern im Zimmer auf dem Tisch, rechts neben dem Laptop. Ich drücke die Klinke: Natürlich bewegt sich die Tür nicht.
Ein Sprung, und ich bin beim Geländer. Ich kann gerade noch den Haarschopf des Zimmermädchens sehen, wie sie ein Stockwerk unter mir verschwindet.
»Ähem … Bedienung?«, flüstere ich, so laut ich kann.
VERPESTET
»Das ist ja mal wieder typisch.« Julis zehntausend Kilometer entferntes Lachen klingt wie ein helles Glöckchen aus meinem Kopfhörer. Ich habe ihr die Geschichte von meinem nächtlichen Geschrei erzählt.
»Wie geht es dir jetzt?«, fragt sie. »Bist du müde? Ist das Wetter gut?«
Ich blicke mich um: Alles ist weiß. Der Schnee wirbelt durch die Luft.
»Es hat wieder angefangen zu schneien«, sage ich, »und ich binein bisschen
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