The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
lächelt. »Ich habe gerade meinen Opa angerufen«, sagt sie, »du kannst bei ihm übernachten!«
IN OPA LIUS HÖHLE
Ich sitze im Wohnzimmer von Opa Liu und bin mir sicher, ich glühe rot vor Verlegenheit.
»Das ist Leike aus Deutschland!« Mit diesen Worten wurde ich von der Bedienung aus dem Restaurant bei ihren verdutzten Großeltern zur Tür hineingeschoben. Dann rief sie noch: »Keine Angst, er versteht Chinesisch!« und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Die beiden alten Leute starrten mich ungläubig an – ich musste ihnen wie ein finsterer Schatten erscheinen, der über ihre Wohnung gekommen war.
Zwei Kinder und ein gelber Hund lugten vorsichtig aus einem anderen Raum hervor.
»Hallo«, sagte ich mit einem ungelenken Winken.
Die Oma fand als Erste ihre Sprache wieder. »Hallo, Leike aus Deutschland«, sagte sie laut und stieß ihren Mann mit dem Ellbogen in die Rippen. Ich bekam einen Platz zum Sitzen zugewiesen, und kurz darauf erschienen Tee und Kekse vor mir auf dem Tisch. Dann bat sie mich zu erklären, wie ich bei ihnen gelandet war.
Ich stammele etwas von meiner Reise, von meinem Charakter und von dem Missgeschick mit dem Hotel, und dabei versuche ich, alles ganz selbstverständlich klingen zu lassen. Als ich fertig bin, blicke ich die Oma fragend an. Sie scheint hier der Chef zu sein.
Sie nickt. »Du kannst hierbleiben, das ist kein Problem.«
»Ich möchte Ihnen aber auf keinen Fall zur Last fallen!«
»Ach was!«, sagt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Eine sehr schöne … Wohnhöhle haben Sie hier«, lobe ich und blicke mich demonstrativ um. Der strahlend weiß verputzte Raum ist wirklich sehr wohnlich eingerichtet: Fernseher,Couch, Tisch, kitschiger Kalender mit Inselmotiv – alles da. Fast könnte man vergessen, dass wir uns mehrere Meter tief in einem Berg befinden.
Auf dem Gesicht der Oma erscheint ein stolzes Lächeln. »Das haben wir alles selbst gebaut. Sehr praktisch: im Winter warm und im Sommer kühl.«
»Und so sauber! Wie machen Sie das nur?«
Ihr Lächeln wird breiter, und sie schüttelt geschmeichelt den Kopf.
Die beiden Kinder haben sich inzwischen etwas vorgewagt. »Sag mal, Onkel Leike«, fragt das Mädchen zaghaft, »hast du Fotos aus Beijing dabei?«
Und ob ich die dabeihabe!
Es dauert zwei Minuten, bis ich den Laptop auf dem Tisch aufgestellt habe.
»Beijing!«, kräht sie glücklich, als das erste Foto erscheint. »Da war ich schon mal!«
»Wirklich?«
»Na klar!« Sie guckt mich an, als sei meine Frage völlig absurd.
»Und wann warst du da?«
»Letztes Jahr im Sommer.«
Da muss sie ungefähr sieben oder acht gewesen sein.
Sie strahlt. »Beijing ist toll! Weil es dort so sauber ist.«
Sauber? Ich erinnere mich noch genau an den Tag meiner ersten Ankunft in China und an den undurchdringlichen Beijinger Smog.
Als ich das kleine Mädchen frage, was genau sie mit »sauber« meint, ist sie erstaunt über meine Unwissenheit: »Weißt du, wenn man in Beijing ist, kann man tagelang ein weißes Kleid tragen«, sagt sie und fügt dann etwas leiser hinzu: »Und hier ist es schon nach ein paar Stunden schwarz.«
Nachdem die Oma mit den beiden Kindern in einem Nebenzimmer zu Bett gegangen ist, bleiben Opa Liu und ich noch eine Weile im Wohnzimmer sitzen und trinken Tee.
Er ist ein kräftiger Mann, der nicht viel redet. Er bändigtsein widerspenstiges Haar mit einem Seitenscheitel, sein rechtes Augenlid hängt ein bisschen herunter. Früher war er Minenarbeiter, wie die meisten anderen Männer im Ort. Jetzt kümmert er sich um die Enkelkinder, während sein Sohn das Geld verdient.
Irgendwie sind wir auf die Kulturrevolution zu sprechen gekommen.
»Das war schlimm«, brummt er, »wirklich schlimm.«
Die Menschen reden nicht sehr gern über diesen Teil ihrer Geschichte. Und wenn sie es doch tun, dann hört es sich meist ähnlich an wie ein deutsches Gespräch über das »Dritte Reich«: Man bemüht sich um einen neutralen Ton, wägt jedes Wort sorgfältig ab und sagt lieber »die« anstatt »wir«.
»Das Schlimmste war, dass damals sogar innerhalb der Familien gekämpft wurde«, sagt er. »Brüder gegen Brüder, Väter gegen Söhne. Niemand war davon ausgenommen.«
Mir fällt ein, was Zhu Hui mir über seinen Vater erzählt hat: von den vielen einsamen Tagen, die er während der Kulturrevolution mit der Jagd in den Bergen verbrachte, um nicht in politische Streitgespräche verwickelt werden zu können.
»Um was ging es damals eigentlich?«,
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