The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
sein, dass ich absolut nichts verstanden habe. Als wir mit unserer Fotosession fertig sind, führt sie mich zu einer Wand, auf der ein großes goldenes Schriftzeichen angebracht ist, und stellt mir betont langsam und deutlich eine einfache Frage. »Das Zeichen da, verstehst du, was es bedeutet?«
Ich überlege kurz, denn ich will auf keinen Fall etwas Falsches sagen: »Das heißt ›Wurzel‹, oder?«
»Richtig!« Mit einem anerkennenden Lehrerinnenlächeln zeigt sie auf den Boden, in den in regelmäßigen Abständen Metallplaketten eingelassen sind.
»Hier versammeln sich die Familien, wenn sie kommen, um ihre Wurzeln zu suchen und ihre Ahnen zu ehren«, erklärt sie. »Selbst unser Premierminister war schon einmal da.«
»Wen Jiabao? Ich dachte, der wäre aus Tianjin?«
»Ja, das stimmt, aber seine Vorfahren kamen aus Shanxi!« Sie lächelt: »Es gibt ein altes Sprichwort: Fragt mich jemand, wo meine Heimat ist, so sage ich: Beim Großen Schnurbaum von Hongtong. Fragt man nach dem Wohnort meiner Ahnen, so sage ich: Es ist nur ein Vogelnest in diesem Großen Schnurbaum!«
»Ach ja, Shanxi ist die Wiege der chinesischen Kultur! Das hat mir schon mal jemand erzählt.«
»Nicht schlecht, aber darum geht es nicht«, sagt sie lachend. »Die Geschichte von diesem Baum ist noch nicht ganz so alt.«
Sie führt mich in eine Museumshalle, in der hauptsächlich Bilder ausgestellt sind. Dort erzählt sie mir, was für Dinge sich hier zugetragen haben.
In der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts war es in China, ähnlich wie auch im pestbefallenen Europa, zu einem dramatischen Bevölkerungsrückgang gekommen. Zwar hatteman die Mongolen vertreiben können, die sich fast hundert Jahre lang als Yuan-Dynastie in Beijing festgesetzt hatten. Doch als endlich, im Spätsommer des Jahres 1368, ein südchinesischer Bauer namens Zhu Yuanzhang den Thron bestieg und eine neue Dynastie ausrief, die er »Da Ming« nannte, »große Helligkeit«, gähnte ihm aus weiten Teilen des Reichs bedrückende Finsternis entgegen. Was alle kriegerischen Auseinandersetzungen der vorangegangenen Jahrzehnte nicht vermocht hatten, hatte der Gelbe Fluss mit einer einzigen seiner gefürchteten Launen vollendet: China war großflächig entvölkert worden, und das zentrale Flachland war nahezu menschenleer.
»Umsiedeln!«, verfügte der Kaiser entschieden, und sein Finger wies auf die Berge des heutigen Shanxi, die weitgehend von Kriegen und Überschwemmungen verschont geblieben waren.
»Unser Hongtong war damals die bevölkerungsreichste Stadt der ganzen Gegend«, erklärt die Fremdenführerin stolz und zeigt auf eine großflächige Malerei, auf der eine Siedlung und ein gigantischer Baum zu sehen sind. Das muss der Große Schnurbaum sein.
»Natürlich wollten die Leute auf keinen Fall von hier fortgebracht werden. Du weißt wahrscheinlich, wie sehr wir Chinesen an unserer Heimat hängen. Doch die kaiserlichen Beamten griffen zu einer List: Sie behaupteten, dass sich genau diejenigen hier zur Registrierung einfinden sollten, die nicht umgesiedelt werden wollten.«
»… und die hat es dann getroffen?«
»Genau. Hier sieht man, wie die Leute mit den Händen auf dem Rücken aneinandergebunden wurden. Das Letzte, was sie von ihrer Heimat sahen, war der Große Schnurbaum, und das Letzte, was sie hörten, waren die Rufe der Vögel darin. Manche Familien wurden Tausende von Kilometern weit fortgetrieben.«
»Wie viele Menschen wurden damals umgesiedelt?«, frage ich.
Sie seufzt. »So genau weiß man es nicht, aber es müssen sehr viele gewesen sein. Ein Beispiel: Du kennst bestimmt den Ausdruck, den man benutzt, um sich zu entschuldigen, wenn mankurz auf die Toilette gehen muss, oder?«
»Die Hände befreien?«
»Ja. Dieser Ausdruck ist damals auf den Umsiedelungsmärschen entstanden. Die Leute waren ja die ganze Zeit gefesselt. Und wenn jemand einen Drang verspürte, dann musste er einen der Treiber bitten, für einen Augenblick seine Hände zu befreien.«
Und das ist noch nicht alles.
»Manche behaupten sogar, dass auch die Lieblingskörperhaltung der alten Chinesen von der Fesselung herrührt!«, fährt sie fort und stellt sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor mir auf. Die Omas und Opas in meinem Beijinger Wohnhaus standen auch immer so bei uns im Hof herum.
»Die Menschen wollten ihre Heimat nicht vergessen«, sagt sie.
Mir fällt ein Mädchen ein, das ich im Sommer auf dem Langen Fluss im Süden kennengelernt habe. Wir
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