The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
kommt auf mich zu. Er hat einen langen weißen Bart. Sein Haar ist mit einem Band auf dem Kopf zu einer Art Dutt zusammengebunden, und seine Haltung ist kerzengerade.
»Das ist Meister Yan!«, raunt der Mann neben mir, während der alte Tempelvorsteher die Hände vor der Brust aneinanderlegt, um mich zu begrüßen.
Ich versuche die Geste nachzumachen, ohne dabei allzu albern auszusehen, und ein Lächeln erscheint auf dem Gesicht des Alten. Er deutet auf einen Hocker.
»Stell dein Gepäck ab, und setz dich«, erklärt der vermeintliche DVD-Händler, und während ich dem Angebot in aller damit verbundenen Umständlichkeit Folge leiste, lässt der alte Daoist Teeblätter aus einer Dose in einen Becher rieseln und gießt dampfendes Wasser darüber. Der Tee ist für mich.
Es stellt sich heraus, dass Meister Yan und ich einander sehr sympathisch sind und unglaublich viel zu bereden haben. Wenn nur das Sprachproblem nicht wäre! Allzu oft lächeln wir einander mitten im Satz hilflos an und müssen die Hilfe der anderen in Anspruch nehmen, um eine notdürftige Brücke zu schlagen zwischen meinem Lehrbuchchinesisch und den gewundenen Pfaden seines Bergdialekts. Aber es ist eine interessante Unterhaltung.
Mein Vorhaben gefällt ihm: »Das Laufen von zehntausend Li ist besser als das Lesen von zehntausend Büchern«, befindet er, und der Satz ist so kurz und wohlklingend, dass ich nicht überrascht bin, als mir erklärt wird, dass es sich um ein uraltes chinesisches Sprichwort handelt.
Seit mehr als vierzig Jahren wohnt Meister Yan nun schon in der Abgeschiedenheit dieses Tempels. Das Chaos der letzten Jahre unter dem Großen Vorsitzenden, die Reformpolitik seines Nachfolgers Deng Xiaoping und der Aufschwung, der das Land seither im Sturm erfasst hat – all das ist an ihm vorübergegangen, während er hier oben betete, seine Heiligenfiguren pflegte und sich in der Kunst der Kalligrafie übte.
Je länger wir reden, desto begeisterter bin ich: Dieser alte Mann ist so ganz anders als all die anderen Daoisten, die ich bisher gesehen habe. In den berühmten Gebirgsklöstern von Wudang zum Beispiel, im warmen Süden des Landes, sind die Mönche und Priester zwar in die schönsten farbigen Gewänder gekleidet und üben sich in Kampfkünsten, aber ich konnte mich während meines Aufenthalts nicht des Eindrucks erwehren, dass sie sich bewusst Mühe gaben, möglichst mystisch und unnahbar zu erscheinen.
Nicht so Meister Yan. Er sitzt in seinem alten Militärparka vor mir und bemüht sich, mir das Dao und das Buch der Wandlungen auf einem Blatt Papier zu erklären, und jedes Mal, wenn wir dabei nicht weiterkommen, lacht er und streicht sich über seinen Bart. Als ich ihn vorsichtig um ein Foto bitte, nickt er erfreut und lädt mich zu einem Rundgang durch den Tempel ein, bei dem ich nicht nur ihn selbst, sondern auch die Schreine der fünf Heiligen und seine private Kammer fotografieren darf.
Besonders Letztere hat es mir angetan: Sie ist eigentlich eine Art in den Berg getriebene Wohnhöhle, wie sie in dieser Gegend der weichen Lössböden seit jeher üblich sind. Innen ist sie mit Zeitungspapier ausgekleidet, und die Einrichtung ist spärlich, aber an der Wand steht ein über und über mit Heiligenfiguren, Ahnentafeln und Opfergaben vollgestopfter Schrein mit einem Kissen zum Daraufknien davor. Während ich mein Stativ aufbaue, pfriemelt Meister Yan an einer Steckdose herum, und im nächsten Moment taucht eine bunte Lichterkette den Schrein in ein leuchtendes Wirrwarr aus roten, grünen und gelben Lämpchen. Ich lächele, und er lächelt zurück.
Wir trinken noch ein bisschen Tee und plaudern über dies und das, doch irgendwann muss ich gehen, denn ich habe in den letzten Tagen schon zu oft Pause gemacht, und die Stadt Yuncheng, wenn ich denn zum Neujahr dort sein will, ist noch sehr weit entfernt.
Vor dem Tor ziehe ich die Gurte meines Rucksacks straff und bilde mir ächzend ein, dass er wieder etwas schwerer geworden ist: Meister Yan hat mir eine Miniaturausgabe des Daodejing geschenkt, ein kleines Amulett in Form einer zeigenden Hand, die mir in der Gefahr die richtige Richtung weisen soll – und eine Dose Teeblätter aus dem Tempelgarten. Ob ich ihn wieder besuchen werde, wenn ich einmal Frau und Kinder habe?, fragte er mich zum Abschied.
Ich sagte Ja und meinte es auch so.
Dann folge ich dem Weg durch die Berge, den mir die Dorfbewohner beschrieben haben. Die Luft hier oben ist frisch und gut, ganz anders als unten
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