The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
müde.«
»Frierst du?«
»Nein, im Moment nicht. Außerdem ist die nächste Stadt nicht mehr weit.«
»Welche denn?«
»Linfen.«
Über diesen Namen denke ich schon länger nach. Es ist, als wolle er mir irgendetwas sagen, aber ich komme nicht darauf, was es ist.
»Sag mal, weißt du, was es mit Linfen Besonderes auf sich hat?«
Juli überlegt einen Moment. »Wird da nicht Kohle abgebaut?«
»Genau!« Jetzt fällt es mir wieder ein. »In einem deutschen Magazin stand, dass Linfen die am stärksten verpestete Stadt in ganz China ist und eine der schlimmsten Städte der Erde!«
Ich blicke um mich. Es hört sich unglaublich an in dieser weißen Stille, in der der Schnee unter meinen Sohlen knirscht und in sanften Flocken in meinen Wimpern hängen bleibt.
Ich laufe noch einen ganzen Tag durch den Schnee. In regelmäßigen Abständen schnauft ein Bus in einer dampfenden Wolke an mir vorbei, und jedes Mal kleben die Passagiere am Fenster, um mich ungläubig zu bestaunen. Von ihren geheizten Sitzplätzen aus muss ihnen meine Freizeitbeschäftigung ziemlich albern erscheinen.
Doch ich bin nicht allein: Einmal treffe ich auf einen älteren Herrn, der mit einem blauen Regenschirm durch die Schneelandschaft spaziert, als gebe es nichts Schöneres auf der Welt. Mit seiner Sonnenbrille und dem krausen Kopfhaar sieht er ein bisschen so aus wie Nordkoreas Kim Jong-Il.
Aber er hat ein Lächeln auf dem Gesicht.
»Ähem, wie weit ist es noch bis zum nächsten Restaurant?«, frage ich, als wir noch ein paar Meter voneinander entfernt sind. Ich will nicht, dass wir wortlos aneinander vorbeigehen.
Er bleibt stehen und deutet auf die Straße hinter sich.
»Da drüben«, sagt er, »da liegt Linfen!« Seine Augenbrauen tanzen vergnügt über der Sonnenbrille auf und ab, »nicht mehr weit – höchstens noch ein paar Li !«
Stoffhose, Hemd, leichte Jacke – wie ein Wanderer ist er jedenfalls nicht gekleidet. In der Hand trägt er eine rote Stofftasche und einen gitterartigen Gegenstand aus Holz, von dem ich keine Ahnung habe, wozu er gut sein könnte. Aber mir fällt auf, dass sein Regenschirm eigentlich gar kein Regenschirm ist, sondern ein prächtiger, goldglänzend durchwirkter Parasol, wie die Damen Asiens ihn gern bei Sommerausflügen mit sich führen, um die vornehme Blässe ihrer Haut zu erhalten.
»Danke sehr«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt, und er antwortet ebenso höflich mit: »Keine Ursache!« Dann setzt er sich wieder in Bewegung und stolziert an mir vorbei in die Richtung, aus der ich gekommen bin.
Verwirrt starre ich dieser Erscheinung hinterher.
»He«, rufe ich im letzten Moment, bevor er außer Hörweite ist. »Wo wollen Sie eigentlich hin?«
»Ich?« Er bleibt stehen und hebt seinen Schirm. »Ich will nach Hause!«
Nach Hause. Natürlich. Gedankenversunken stapfe ich weiter.
Irgendwann taucht wieder der Bus in seiner Schneewolke auf. Mühsam kämpft er sich heran, und als er neben mir den Schnee aufwühlt, kann ich abermals die Passagiere mit ihren o-förmigen Mündern und den weit aufgerissenen Augen erkennen. Auch der eine oder andere ausgestreckte Finger ist da, um auf mich zu zeigen.
Die Passagiere im Bus bestaunen den Ausländer mit dem Rucksack, und der Ausländer mit dem Rucksack bestaunt den Spaziergänger mit dem Sonnenschirm. Alle glotzen einander ratlos an, und es gibt nicht den geringsten Unterschied.
Ich kichere die restlichen Kilometer bis nach Linfen.
In Linfen angekommen, knie ich in einer Garagenauffahrt und fotografiere eine Gruppe Kinder, die auf ihren Hosenböden kichernd den Schnee hinunterrutschen und sich dabei amüsieren wie Könige. Da berührt mich jemand am Arm und fragt: »Entschuldigung, was machen Sie da?«
Ich blicke mich um: Die Stimme gehört einer Frau, die mich durchdringend mustert.
In den nächsten Minuten lächelt sie wenig und redet dafür umso mehr: Ihr Mann arbeite beim Fernsehen. Ich müsse ihn unbedingt kennenlernen. Er sei Reporter bei Linfen TV. Ein furchtbar netter Typ. Er müsse eigentlich gleich hier sein. Wo er denn nur stecke? Sie presst ihr Handy ans Ohr und bellt etwas Unverständliches hinein.
Es muss sich um einen Befehl gehandelt haben, denn fünf Minuten später taucht ein schmächtiger Mann auf, der ungefähr in meinem Alter zu sein scheint, und streckt mir die Hand entgegen: »Hallo, Leike«, sagt er, »ich habe schon viel von dir gehört!«
Er lächelt freundlich, und ich lächle freundlich zurück, während seine Frau
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