The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
dünnen Finger auf den Torbogen, »unter diesem Baum sind sie damals durchgekommen!«
Ich versuchte mir Cixis typischen, leicht säuerlichen Gesichtsausdruck vorzustellen und die langen, spitzen Fingernägel, mit denen sie den Vorhang ihrer Sänfte beiseiteschob, um einen Blick auf die Außenwelt zu erhaschen. Ob sie beim Anblick des seltsamen Bäumleins, dem es auf wundersame Weise gelungen war, seine Wurzeln in das Mauerwerk des Torbogens zu schlagen, an die Ausländer denken musste, die sich in den letzten Jahrzehnten in ihrem Reich festgekrallt hatten und nun drohten, es zum Einsturz zu bringen? Oder gab es damals das Bäumlein noch gar nicht?
Ich brauche eine kleine Ewigkeit, bis ich mich endlich dazu überwinden kann, aus der Wärme meines Schlafsacks hinauszurobben und den kalten Wintertag zu begrüßen. Im Wohnzimmer treffe ich auf die Gastgeberin und ihren Sohn. Er spielt »Counterstrike« und hebt wortlos die Hand , während sie auf dem Sofa sitzt und an einer Scherenschnittfigur bastelt. Ich bekomme ein Mantou-Brötchen und einen Becher Tee in die Hand und setze mich in einen Ledersessel. Der Raum spiegelt sich sanft in der Schwärze eines modernen Flachbildfernsehers, und während ich auf dem labbrigen Teig herumkaue, denke ich, dass ich bei der reichsten Familie des ganzen Dorfes untergekommen bin und vielleicht auch bei der unglücklichsten.
»Wie gefällt dir Dingcun?«, fragt die Gastgeberin, ohne denBlick von ihrer Bastelei zu nehmen, und ich male ihr in den schönsten Farben aus, was für eine Perle ihr Dorf ist und dass mein Freund vom Fernsehen völlig recht hatte, mir diesen kleinen Umweg zu empfehlen, um die Menschen, die Kultur und die malerischen Höfe von Dingcun kennenzulernen.
Sie schweigt einen Moment und scheint zu überlegen. »Ausländern würde es hier also gefallen, meinst du?«
Gefallen? Lieben würden sie es hier! Die geschwungenen Dächer, der Duft nach brennendem Holz, das stille Hügelland …
»Vielleicht sollte ich dauerhaft Zimmer vermieten, wenn künftig mehr Touristen zu uns kommen«, sagt sie, und ihr Sohn blickt kurz von seinem Computerspiel auf.
Das Geld bräuchte sie jedenfalls nicht. Ihr Mann arbeitet die meiste Zeit des Jahres in der südlichen Provinz Guangdong und verdient dort sehr gut. Daher das große Haus, daher der Flachbildfernseher, daher der neue Computer. Und wahrscheinlich liegt darin auch der Grund für die seltsam bedrückte Stimmung in der Familie.
Ich frage mich, wann der Junge seinen Vater zum letzten Mal gesehen hat.
Der Lärm des Feuerwerks ist unterdessen wieder aufgeflackert.
»Eine Beerdigung in der Nachbarschaft«, bemerkt sie trocken. Wenige Minuten später befinde ich mich in einem mit bunten Kränzen geschmückten Innenhof, in dem sich bereits eine raunende Menge versammelt hat. Einige der Leute tragen das weiße Trauergewand, doch die Mehrzahl scheint in ihrer Alltagskleidung gekommen zu sein. In einem Unterstand steht ein reich gedeckter Tisch voller Früchte und Speisen, und dahinter ist ein hölzerner Sarg aufgebahrt. IN TIEFSTER TRAUER UM DEN GENOSSEN YANG FUSHENG, steht auf einem Spruchband an der Wand, und ich finde, die schwarzen Schriftzeichen sehen aus, als hätte sie jemand, der nicht viel Übung in so etwas hat, mit einem großen Pinsel daraufgemalt.
Verstohlene Blicke von überall. Ein kleines Kind in einemknallroten Mantel zupft seine Mutter am Arm und zeigt auf mich. Einige der Trauernden heben die Köpfe, um zu sehen, was der Grund für die Aufregung ist, und als mein Blick tief in ein verweintes Augenpaar fällt, weiß ich, dass ich nicht hier sein sollte.
Ich hätte längst fortgehen und auf der Landstraße den Schnee breit treten sollen und nicht hier sein und die Leute begaffen, während sie ihre Toten verabschiedeten.
Am Tor steht plötzlich meine Gastgeberin vor mir.
»Du willst schon gehen?«, fragt sie überrascht, und ihre Stimme hört sich an, als wäre ich im Begriff, eine rauschende Party zu verpassen.
Ich stammele ein paar unzusammenhängende Worte vom Respekt gegenüber der Trauer anderer Leute, aber eigentlich erinnere ich mich nur an das Gefühl, selbst inmitten eines Meeres aus Blumen und betroffenen Gesichtern zu stehen, die Hände meiner kleinen Geschwister zu halten und zu wünschen, dass heute bereits morgen sein könnte, damit nur alles vorbei wäre.
Doch sie hat längst durchschaut, dass ich einfach nur etwas schüchtern bin. »Warte kurz«, sagt sie, und einen Moment später steht sie mit
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