The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
zu wimmeln schienen, ohne dass die Behörden etwas dagegen unternahmen. Doch irgendwann wurde mir bewusst, was das über die Haltung der Regierung aussagte. Es war, als würden sie sagen: Uns doch egal, wie ihr euch eure Gesundheit ruiniert, solange ihr unsere Leute in Ruhe lasst und keinen Ärger macht.
Chinesen jedenfalls sollten sich besser nicht beim Drogenkonsum erwischen lassen. Erst vor ein paar Tagen hat es einen meiner ehemaligen Lehrer an der Filmhochschule getroffen. Letzten Mittwoch leuchtete mir sein Gesicht aus den Abendnachrichten entgegen: RAUSCHGIFTRING GESPRENGT, BEIJINGER FILMEMACHER XIE ZHENGYU UNTER DEN FESTGENOMMENEN!, lautete die schreiende Überschrift, und darunter konnte man unseren Lehrer fassungslos in die Kameras starren sehen.
Doch in dem Restaurant in Shanxi ist das alles sehr fern. Cao wischt sich mit dem Handrücken über die Nase und gluckst zufrieden. Ich bin verwirrt: Hat er überhaupt keine Sorge, sich bei seinem Hobby erwischen zu lassen? Oder habe ich das alles falsch verstanden, und das weiße Pulver war überhaupt kein verbotenes Rauschmittel?
Doch ich bin nicht der Einzige, der irritiert ist. Die Frau neben mir fängt plötzlich an zu schimpfen. »Machst du das etwa immer noch, Großer Bruder Cao?« Mit lang ausgestrecktem Zeigefinger deutet sie auf das kleine Stanniolpäckchen wie auf ein ekliges Insekt. »Du weißt ganz genau, dass das schädlich für dich ist!« Ihre Stimme hört sich streng und gutmütig zugleich an, als würde sie mit einem ungezogenen Kind sprechen.
Und Cao antwortet so, wie jeder Freizeitjunkie in Europa oder Amerika antworten würde – er grinst und sagt: »Ja, ja, ich weiß.« Dann packt er bedächtig sein Päckchen wieder zusammen, um es in der Jackentasche verschwinden zu lassen.
DER ALTE DORFVORSTEHER
Ich wache vom Geräusch eines Feuerwerks auf und denke: Hochzeit oder Beerdigung ? Doch es ist zu kalt, um aufzustehen und nachzusehen.
Seit Linfen hat es nur noch geschneit. Im Schnee habe ich Herrn Cao und seinen Freunden Lebewohl gesagt, bevor ich frierend weitermarschiert bin, und im Schnee haben sie michspäter wiedergefunden, um mir einen Ausdruck von unserem Gruppenfoto zu überreichen und noch einmal viel Glück zu wünschen. Gestern habe ich im Schnee getanzt, genau an der Stelle, die mir mein GPS als Kilometer Nummer eintausend angezeigt hat. Es war wohl eher ein müdes Wackeln als ein Tanzen, aber es musste sein.
Kurz darauf bin ich von der Landstraße in Richtung Westen abgebogen, um ein Dorf namens Dingcun zu finden, von dem mir mein Reporterfreund in Linfen erzählt hatte. Dort sollte alles sehr alt und sehr schön sein. Auf dem Weg kam ich an einer kleinen Siedlung vorbei. Ein Greis zeigte mir einen zugemauerten Torbogen, aus dessen Spitze ein Baum hervorwuchs.
»Den hat schon die Kaiserinwitwe Cixi bewundert, als sie auf ihrer Flucht hier vorbeigekommen ist«, sagte er, und als ich fragte, vor wem sie denn damals habe flüchten müssen, die Kaiserinwitwe, da lachte er nur krächzend. »Vor euch Ausländern natürlich.«
Das Jahr 1900 war einer der Tiefpunkte der chinesischen Geschichte, und Deutschland war daran alles andere als unschuldig.
»Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.«
Mit diesen ebenso bräsigen wie boshaften Worten hatte Wilhelm II. im ersten Sommer des zwanzigsten Jahrhunderts seine Truppen nach China verabschiedet, um die Ermordung eines seiner Gesandten zu rächen.
Es wurde ein ungleicher Kampf. Auf der einen Seite stand eine Allianz aus Kolonialmächten und solchen, die es gern werden wollten, darunter auch die Vereinigten Staaten, Frankreich, England, Russland und Japan – und auf der anderen Seite diemandschurische Qing-Dynastie, der die Kontrolle über ihr von Hungersnöten, massenhaftem Opiumkonsum und Aufständen erschüttertes Reich ohnehin schon fast vollends entglitten war.
Als die ausländischen Truppen auf Beijing vorrückten, musste der Kaiserhof ins Hinterland fliehen, und wie so oft am Endpunkt einer Dynastie war es auch damals nicht der Kaiser selbst, der die Entscheidungen traf, sondern jemand anderer: seine Tante, die alte Kaiserinwitwe Cixi.
»Genau hier«, sagte der Greis stolz und zeigte mit einem
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