The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Dorfvorsteher Li vor mir.
Der Dorfvorsteher ist ein verständiger Mann, und als er erfährt, dass ich eigentlich gern die Tradition seines Dorfes dokumentieren würde, die Trauerfeier aber auf keinen Fall zu stören beabsichtige, da sagt auch er nur »Warte kurz« und holt einen ganz in Weiß gehüllten, stattlichen Herrn, der mir als Schwiegersohn des Toten vorgestellt wird. Der Herr nickt ernst, als ihm die Situation erklärt wird, und dann nickt er noch einmal auffordernd in meine Richtung.
Und damit bin ich offizieller Fotograf der Beerdigungsfeier.
Mein Auftrag: alles so umfassend wie möglich zu dokumentieren und später Abzüge davon an die Familie zu schicken. Ich bin sprachlos: Die Leute wollen , dass ich sie fotografiere?
Einen Moment lang bleibe ich unschlüssig stehen und kann mich nicht überwinden, meine Kameras hervorzuholen, doch Dorfvorsteher Li legt mir eine Hand auf die Schulter und sagtgutmütig: »Jetzt aber los!«
Und mit diesen Worten tauche ich ein in die Feierlichkeiten, mit denen der alte Dorfvorsteher Yang nach einem langen Leben zu Grabe getragen wird: schluchzende Redner und kleine Schälchen mit Speiseopfern, denen man ansehen kann, mit wie viel Liebe und Sorgfalt sie zubereitet wurden. Männer, die sich um den Sarg drängen, um ihn tragen zu dürfen, weil sie sich dadurch den Schutz des Verstorbenen erhoffen. Das Feuer, das die Sargträger überqueren müssen, bevor sie den langen, gewundenen Weg in die Hügel beschreiten können. Die bulligen Söhne des Toten, die schweigend Tränen vergießen, während sie den Trauerzug an langen Seilen anführen. Die Frauen, die sich mit zittrigen Schritten der Stelle nähern, an der der Sarg in den vereisten Boden hinabgelassen werden soll. Die Schneebälle, die zwischen einigen Dorfbewohnern hin- und herfliegen, während das Grab mit flinken Schaufeln zugeschaufelt wird. Das feierliche Verbrennen der Kränze, der Häuser, Autos und Geldscheine aus Papier, die den alten Dorfvorsteher bei seiner Reise ins Jenseits begleiten sollen. Und schließlich seine Ehefrau, die von beiden Seiten gestützt wird und dennoch fast zu Boden sinkt, während sie als Letzte den Ort verlässt, an dem ihr Mann im Schnee auf sie warten wird.
Als ich das Dorf Dingcun verlasse, ist es bereits spät am Nachmittag, und ich habe nasse Füße, doch das kümmert mich nicht. Ich verabschiede mich von den Trauernden, von dem Dorfvorsteher und von meiner Gastgeberin und ihrem Sohn, und dann wandle ich durch eine stille, sich verdunkelnde Welt aus Schnee, in der irgendwann völlige Finsternis herrscht, die nur noch ab und zu von dem kometenhaften Leuchten eines Autos durchbohrt wird. Einmal bleibe ich stehen, um mir die Nase zu putzen. Meine Augen tränen, und einen Moment lang bin ich mir nicht sicher, ob es an der Kälte liegt oder daran, dass ich traurig bin. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren, wähle »Ana Na Ming« von Salif Keita und drücke auf Repeat.
Und dann schwebe ich durch die Dunkelheit.
IM GLEISBETT
Nach zwei Tagen im Eis komme ich in der Kleinstadt Quwo an und finde endlich ein geheiztes Hotelzimmer.
Ich zerre die nasskalt schmatzenden Schuhe von meinen Füßen und stelle sie unter die Heizung, dann hänge ich meine Kleidung auf. Die Dusche ist angenehm warm, und ich lasse ihr Wasser an mir herunterlaufen, bis die Haut an meinen Fingern aufgequollen und runzelig geworden ist.
Auf meinem Handy ist eine Nachricht von Ke’er: Sie ist in Yuncheng und will wissen, wann ich komme.
Gute Frage. Eigentlich könnte ich in weniger als einer Woche dort sein. Aber will ich das überhaupt?
Mein Blick fällt auf das bunte Pappschildchen neben dem Zimmertelefon. Ich drehe es eine Weile zwischen den Fingern, dann greife ich zum Telefon. Kurz darauf klopft es an der Tür. Als ich öffne, steht eine gelangweilt aussehende Frau mittleren Alters vor mir und macht eine knetende Bewegung mit den Händen. Massage?
Enttäuscht winke ich ab: Heute lieber früh schlafen gehen, vielen Dank, auf Wiedersehen . Als Antwort zuckt sie mit den Achseln und verschwindet in der Dunkelheit des Flurs.
Ich lasse mich zurück aufs Bett fallen und grübele.
Yuncheng. Zu Juli habe ich gesagt, dass mich »Bekannte« dorthin eingeladen hätten, kein Wort von der hübschen Ke’er. Andererseits: Wie lange ist es her, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe?
Ich könnte auch zuerst einen Umweg zu dem mysteriösen Gebilde machen. Es ist ein Fleck auf der Landkarte, ungefähr einhundert
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