The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Kilometer westlich von hier, der aussieht wie ein Berg oder ein Krater, ohne dass man ganz sicher sagen könnte, was es eigentlich ist. Als ich Xiaohei danach fragte, war er sofort Feuer und Flamme und meinte, ich solle hingehen und es erkunden, so wie die Entdecker es früher gemacht hätten. Das würde auchbedeuten, dass ich später in Yuncheng ankäme und weniger Zeit für irgendwelche Dummheiten hätte …
Ein abermaliges Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. Diesmal ist es ein untersetzter Mann, der aussieht wie ein Fernfahrer oder ein Imbisskoch.
Er räuspert sich. »Massage?«
Von irgendwoher höre ich ein Kichern.
In dem nun folgenden Gespräch stellt sich heraus, dass unten im Massagesalon bereits eine Sensationsnachricht die Runde gemacht hat: Hier oben wohnt doch tatsächlich ein Ausländer, der um eine Massage gebeten hat, aber auf keinen Fall von einer Frau berührt werden will!
Der mutige Mann war losgeschickt worden, um zu prüfen, was es damit auf sich hat, und eine Delegation amüsierter Mädchen war ihm prustend gefolgt, um sich das Schauspiel anzusehen.
Eine von ihnen sieht mit ihrer glatten, goldenen Haut und ihren tiefschwarzen Augen ein bisschen so aus wie Juli, und für einen Moment bin ich verführt, auf sie zu zeigen und einfach »Die da!« zu rufen.
Doch stattdessen entschuldige ich mich umständlich für das Missverständnis und kehre in mein Zimmer zurück, während sich die kichernden Stimmen draußen im Flur entfernen. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und greife nach dem Handy. Die Antwort an Ke’er tippt sich wie von selbst: Komme, muss aber vorher noch etwas erledigen!
Die Städte in dieser Gegend liegen eng beieinander. Einen Tagesmarsch von Quwo entfernt liegt Houma, und einen weiteren von Houma entfernt liegt die Kleinstadt Xinjiang. Ich komme zu einer Brücke, vor der anscheinend gerade ein Markt stattfindet, und überblicke ein Gewirr aus Matten und Tischen, auf denen die verschiedensten Gegenstände angeboten werden: Vom Bürostuhl bis zum Büstenhalter und vom Plüschtier bis zur Plastikblume kann man hier wirklich alles bekommen. Überallwuseln dick eingemummelte Leute herum und schreien sich gegenseitig Preisangebote zu. Es riecht nach gebratenem Tofu.
Und dann bin ich mitten im Gewühl.
Mit der Beharrlichkeit eines langsamen Eisbrechers im Nordmeer steuere ich durch die Menschenwogen, während von allen Seiten Omas und Opas gegen mich gedrückt werden und kleine Kinder quiekend zwischen meinen Füßen herumwuseln. Einmal bleibe ich unvermittelt stehen, denn ich halte einen faszinierenden Gegenstand in den Händen: knallrot, in Form einer Scheibe und etwa der Größe eines Fahrradreifens. Auf der Packung steht, dass er aus exakt zehntausend Böllern zusammengesetzt ist: NIAN NIAN HONG, DAS EXKLUSIVE FEUERWERKSVERGNÜGEN!
Einen Moment lang denke ich über die verwirrende Frage nach, wie dieser Schatz in meine Hände gelangt sein könnte, dann ertappe ich mich bei der Überlegung, ob ich ihn zum Transport an meinem Rucksack befestigen könnte, und schließlich werde ich rot vor Scham, als der Verkäufer schallend loslacht. »Willst du das wirklich mitschleppen?«, fragt er, und sofort schaltet sich eine alte Dame als Stimme der Vernunft ein. »Ist doch noch fast zwei Wochen hin bis zum Neujahrsfest, Junge! Kauf dir deine Böller später!«
Und sie hat natürlich recht. Zögerlich lege ich meinen Schatz zurück auf den Verkaufstisch, und die Leute biegen sich vor Lachen, als ich zum Abschied noch einmal wehmütig mit der Hand darüberstreiche.
Egal, was sonst passiert, aber in Yuncheng wird geböllert!, verspreche ich mir im Stillen.
Doch in dem Moment, als ich den Markt hinter mir gelassen und die Brücke betreten habe, ist alles vergessen, denn auf der anderen Seite des Flusses liegt der Ort Xinjiang, und er ist viel schöner als die meisten anderen chinesischen Städte, die ich bisher gesehen habe.
Viele Orte in diesem Land haben auf den ersten Blick etwas Verwirrendes: Da wabern einem Schwärme von mehrstöckigenWohnhäusern und Bürotürmen entgegen, man muss sich zurechtfinden auf grotesk breiten Straßen, auf Fußgängerbrücken und unter Autobahnüberführungen, und mit Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, dass Grün und Blau die bevorzugten Fensterfarben dieser Gesellschaft zu sein scheinen. Die alten Gebäude, die Tempel, Tore und Türme der Kaiserzeit sucht man hingegen meist vergeblich, und man braucht eine Weile, um sich an den Baulärm zu
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