The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
gewöhnen, der über allem liegt als brummende, knatternde, stampfende, kreischende Begleitmusik.
Aber hier ist das nicht so.
Wenn man die Brücke vor der Kleinstadt Xinjiang betritt, dann sieht man eine Flussbiegung und dahinter den Hügel, um den die Stadt ihre Gebäude geschart hat: Da sind die traditionellen Hofhäuser mit ihren geschwungenen Dächern, die schlanken Türme von Pagoden und Kirchen, aber auch die dickbauchigen Mietskasernen, die glänzenden Fernsehmasten und die rauchenden Fabrikschlote der modernen Stadt, und auf all dies wälzt sich ein dichter Strom von Autos, Fahrradfahrern und Fußgängern zu. Ich folge einem Mann, der einen ausgebeulten Plastiksack über der Schulter trägt. Er überschreitet die Brücke und geht die Ausfallstraße hinunter, und irgendwann verliere ich ihn im Getümmel aus den Augen, doch da bin ich auch schon mitten in der Stadt.
Den nächsten Tag verbringe ich mit dem Versuch, alle Sehenswürdigkeiten von Xinjiang zu besichtigen: Zunächst ist da die Longxing-Pagode, deren Treppenhaus so eng ist, dass ich mehrere Male fast stecken bleibe. Oben angekommen, blicke ich in die überraschten Gesichter eines Jungen und eines Mädchens, beide etwa achtzehn Jahre alt. Sie lächeln zwar und grüßen auch sehr artig, doch es ist trotzdem offensichtlich, dass ich hier störe, zumal der Raum nicht viel größer ist als eine Duschkabine.
Eilig mache ich ein paar Fotos von den liebevoll geritzten und gemalten Nachrichten an der Wand (XY + YZ = Herz ), dann quetsche ich mich wieder in das Treppenhaus und überlasse die beiden ihrem Liebesnest, dreizehn Stockwerke und dreizehnJahrhunderte über dem Staub der Stadt und den Sorgen des Alltags.
Bei der neugotisch anmutenden Kathedrale stelle ich enttäuscht fest, dass sie verschlossen ist. Ich spreche eine Dame an, die auf dem Vorplatz Schnee fegt. Sie strahlt und will mir weismachen, dass diese Kirche schon mehr als tausend Jahre an diesem Ort stehe. Sie sieht aus wie eine lachende Robbe. Als ich meine Bedenken am Wahrheitsgehalt ihrer Aussage anmelde, gluckst sie vergnügt und behauptet, dass es dann eben neunhundert Jahre sein müssten.
Nach ein paar Minuten Palaver entscheiden wir uns, den Pastor aus dem Mittagsschlaf zu holen, um ihn die Frage ein für alle Mal klären zu lassen. Der zerknitterte alte Mann schließt missmutig die Kirchentür auf und brummt: »1937. Von den Holländern gebaut.«
Die Robbe und ich kichern amüsiert.
Mehrere Türme, eine Gruft, eine alte Theaterbühne und eine Gartenanlage später bin ich vom vielen Besichtigen erschöpft und schleppe mich in mein Hotelzimmer. Das Handy klingelt: Juli. Sie erzählt gut gelaunt etwas von der Uni in München, und ich berichte ihr von der Beerdigung in Dingcun und davon, dass ich mich jetzt doch noch entschlossen habe, das auf der Landkarte so mysteriös wirkende Gebilde zu erkunden. »Sonst bin ich zu lange bei meinen Bekannten in Yuncheng«, sage ich, und irgendwie stimmt das ja auch.
Als ich Xinjiang verlasse, begehe ich einen strategischen Fehler: Irgendjemand hat mir den Tipp gegeben, dass der Weg in die nächste Stadt über die Bahngleise um einiges kürzer sei als über die Straße. Also habe ich mich für den Weg über die Gleise entschieden, und daraufhin habe ich fünfundzwanzig Kilometer lang Zeit, diese Entscheidung zu bereuen.
Das Schlimmste sind die Abstände zwischen den Holzschwellen im Gleisbett – sie liegen einerseits so eng, dass man trippeln muss, wenn man sich von einer zur nächsten fortbewegen will,andererseits sind sie aber doch so weit voneinander entfernt, dass man nicht einfach eine überspringen kann. Entnervt versuche ich, auf den Kies neben den Schienen auszuweichen, doch das ist auf Dauer schmerzhaft für die Fußgelenke. Alle dreißig Minuten kommt ein Zug herangedonnert, und ich muss vom Gleisbett hinunterspringen und mir einreden, ich wäre nicht neidisch auf die Leute, die da oben in ihren gemütlichen Schlafabteilen an mir vorbeirauschen wie Zeitreisende.
Ein weiteres Problem ist das Essen. Ich habe in meiner Verblendung fast keinen Proviant mitgenommen, und die Bahnstrecke verläuft an den meisten Stellen auf einer Hochtrasse. So laufe ich über mehr als eine Siedlung mit knurrendem Magen hinweg, ohne hinabgehen und mich versorgen zu können. Einmal mache ich auf einem Hügel Pause, eine Walnussmilch und zwei Muffins, die ich in meinem Rucksack gefunden habe, sind in kürzester Zeit verschwunden. Der Himmel ist weiß, die
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