The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Berg, sondern nur ein blaues Hinweisschild, auf dem steht: LANDSCHAFTSGEBIET GUFENG SHAN 5,8 KILOMETER. Ich will schon weitergehen, da fälltmir darunter ein stilisierter Abfahrtsläufer mit einer vielversprechenden Unterschrift auf: INTERNATIONALES SKIGEBIET. Für einen Moment bin ich perplex.
Obwohl: Warum eigentlich nicht? Abhang plus Schnee ergibt auch im Reich der Mitte mittlerweile immer öfter Wintersport, und warum sollte ich nicht später zwischen lauter bunt gekleideten Skifahrern auf einer nachgebauten Almhütte eine Nudelsuppe genießen?
Nach ein paar von Vorfreude erwärmten Kilometern erreiche ich ein Tor, das die Straße überspannt. GUFENG SHAN, steht in goldenen Zeichen darauf, und im Hintergrund geht es in endlos erscheinenden Serpentinen auf den Gipfel. Die Straße ist blitzblank geräumt, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen ist. Ich durchschreite das Tor und erkenne ein Banner, auf dem steht, dass alle möglichen Lingdao sich hier besonders willkommen fühlen sollen. Mit dem Ausdruck Lingdao bezeichnet man jemanden, der im politischen oder wirtschaftlichen Bereich Entscheidungen trifft, einen Chef sozusagen. Und diese Leute treffen sich hier oben zum Wintersport? Oha.
Doch auf dem Berg finde ich keine Skifahrer und schon gar keine Ski fahrenden Chefs.
Während sich die Straße nach oben windet und das Land unter mir im blauen Dunst versinkt, komme ich an terrassierten Feldern vorbei, an einem weiteren Tor mit der Aufschrift LANDSCHAFTSGEBIET GUFENG SHAN und schließlich an einem leer stehenden Gebäude, das aussieht, als hätte es einmal eine Polizeistation werden sollen. Dann taucht nach einer Kurve tatsächlich die Skipiste auf wie ein gigantisches, über den Hang gebreitetes Tuch. Sie passt perfekt zu der Straße, denn auch sie ist makellos und menschenleer. Neben die Piste hat jemand eine Anzahl von Büschen zu einem Muster in Form der olympischen Ringe gepflanzt. Es ist still. Nirgendwo regt sich auch nur ein Hauch.
Die Straße endet an einer Ansammlung von Gebäuden auf halber Höhe des Gipfels. Ich klopfe aufs Geratewohl an eine Tür.Ein Wachmann erscheint, kratzt sich gähnend am Kopf und erklärt, dass hier oben leider alles geschlossen sei.
Auf meine Frage nach dem Warum antwortet er schlicht: zu viel Schnee.
So verwirrt ich von dieser Antwort auch bin, im Moment habe ich dringlichere Sorgen, und deshalb bitte ich ihn, mir eine Schlafgelegenheit zu beschaffen. Er zieht die Augenbrauen hoch, doch eine Viertelstunde später habe ich tatsächlich ein Hotelzimmer, und zwar eines mit Blick auf die Skipiste! Und zu allem Überfluss findet sich auch noch eine gute Seele, die bereit ist, mir einen elektrischen Heizstrahler auszuleihen, damit ich es nicht zu kalt habe in der Nacht.
Ich schlafe wie ein König.
Als ich am nächsten Morgen die Vorhänge beiseiteschiebe, glitzert mir eine frisch beschneite Winterwelt entgegen, und es fällt mir kein bisschen schwer zu entscheiden, dass heute Ruhetag sein soll. Ich muss in meinem Handy nachgucken, um herauszufinden, dass Mittwoch ist.
Mit meinem Buch in der Hand schlurfe ich über die Straße zu einem großen Glasgebäude, von dem es heißt, es sei ein Restaurant, obwohl es vom Aussehen her auch genauso gut ein Gewächshaus sein könnte.
Die Tür ist unverschlossen, und einen Moment später stehe ich inmitten eines lichtdurchfluteten Saales und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus: Kunstpflanzen, Lampions und Festtagsgirlanden hängen überall von der Decke, und dazwischen sind Dutzende runder Tische, ein Holzhaus und eine Karaoke-Bühne aufgestellt. Die Bühne ist mit grünem Kunstrasen und der Abbildung einer Strandszene dekoriert. Der perfekte Ort für eine chinesische Après-Ski-Party, nur dass keiner da ist.
Den Rest des Tages sitze ich dick eingepackt vor der Karaoke-Bühne und labe mich an Tee und Limonade, an Fertignudeln, Chips und Schokolade. Es herrscht eine Atmosphäre gemütlicher Faulheit. Ab und zu erscheint einer der Bediensteten und linst mir schläfrig über die Schulter, während ich versuche, denchinesischen Roman zu lesen, den ich mir vor ein paar Wochen gekauft habe. Er handelt vom leidvollen Schicksal einer Familie in den Wirren des zwanzigsten Jahrhunderts und ist sehr anrührend und – vor allem – leicht verständlich geschrieben.
Einer der Wachmänner, ein dürrer Junge mit dem Hauch eines Bartes auf der Oberlippe, setzt sich mir gegenüber und steckt sich eine Zigarette an. Eine Weile bleibt er
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