The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Landschaft schneebedeckt. In der Ferne zieht ein einsamer Hund seine Spuren. Er sieht aus wie ein winziger Käfer auf einem Blatt Papier. Als ich einen Pfiff ausstoße, hält er einen Moment lang inne und dreht den Kopf zu mir hin. Ich muss an unseren Hund Puk in Bad Nenndorf denken. Aber die mag ja keinen Schnee. Ist ihr zu kalt.
Es ist bereits fast vollkommen dunkel, als ich im Bahnhof von Jishan ankomme. Ein Zug fährt ratternd ein, und ich kann die Gesichter der Menschen hinter den Scheiben sehen.
Für mich gibt es wenige Dinge, die so schön sind wie eine Fahrt in einem Liegewagen. Ich bin ein wenig neidisch, als der Zug an mir vorbeirollt und ich vorsichtig den Bahnsteig erklimme. Ein uniformierter Wärter blickt mich entgeistert an, doch ich winke ab und mische mich unter die Leute, die durch das Bahnhofsgebäude zum Ausgang wollen. An dieser Stelle wird noch einmal das Ticket kontrolliert. Als die Reihe an mich kommt, halte ich meine Hände vor. Sie sind schmutzig, und sie sind leer. »Ticket!«, sagt der Kontrolleur ungeduldig, und während ich ihm zu erklären versuche, dass ich keines habe, gerät dieSchlange hinter mir ins Stocken. Leute werden ächzend gegen meinen Rucksack geschoben. »Ticket!«, wiederholt er noch ein bisschen ungeduldiger, und ich wiederhole wiederum meine Antwort, dass ich kein Ticket habe. Die Leute hinter mir fangen an zu murren. Da kommt der Bahnsteigwärter herübergelaufen und ruft seinem Kollegen zu: »Der Ausländer ist nicht mit der Bahn gekommen!«
Das Gesicht des Kontrolleurs fällt auseinander. »Nicht mit der Bahn?«
»Nein, sondern irgendwie zu Fuß aus der Richtung!« Der Wärter zeigt auf die Schienen.
Doch der andere scheint bereits entschieden zu haben, dass ihm das Wie und Warum heute Abend nicht so wichtig ist. Mit einem entnervten Gesichtsausdruck winkt er mich durch.
Im Bahnhofsgebäude werde ich zu einem Reisenden unter Reisenden. Ich habe eine Tasche und ein müdes Gesicht, und überall um mich herum sind andere Leute mit ihren Taschen und müden Gesichtern. Ein paar ältere Herren sitzen bei einem Kartenspiel zusammen. Sie blicken nicht auf, als ich an ihnen vorbeimarschiere. Meine Füße tun weh, und ich könnte umfallen vor Müdigkeit. Doch das macht nichts, denn ich bin nicht mit der Bahn gekommen. Ich bin zu Fuß gekommen.
1,25 LITER
Ein paar Kilometer vor einem Ort namens Wanrong klopfe ich an das Fenster einer Tankstelle. Ein junger Mann mit Brille öffnet die Tür. Erstaunt wandert sein Blick von mir zu dem Schneetreiben im Hintergrund und zurück, dann lacht er und bittet mich eilig herein. Ich bekomme einen Becher heißes Wasser in die Hand gedrückt und will schon auf einen Hocker niedersinken, da werde ich in den Hinterraum geführt, wo seine Frau und seine Tochter auf dem Bett sitzen.
Es stellt sich heraus, dass der Mann und ich im gleichen Jahr geboren wurden. Er ist seit einiger Zeit hier der Tankstellenwärter. Er mag seinen Job nicht besonders.
»Du hast wirklich Glück, dass du so in der Welt herumspazieren kannst, ohne dir Sorgen um dein Geld machen zu müssen«, sagt er, und seine Frau nickt stumm, während sie ihrer Tochter über die kurzen Haare streicht.
Der Raum besteht aus einem Holzbett, einem Tisch und einem leise gluckernden Heizkörper. An den Wänden hängt Werbung (UNSERE NEUE MITGLIEDSKARTE MACHT TANKEN JETZT NOCH ENTSPANNTER!), daneben großflächige Poster, auf denen Tiere, Früchte, Fahrzeuge und Berufe mit ihren jeweiligen Bezeichnungen abgebildet sind. Die Kleine soll damit ihre ersten Schriftzeichen lernen. Sie ist vier Jahre alt, trägt eine knallrote Jacke mit glänzenden Knöpfen und sieht wie ein sehr artiges Kind aus.
Als ich die Jacke lobe, lächelt mein Gastgeber stolz: In China müsse man am Neujahrsfest neue Kleidung tragen, am besten rote. Wo ich eigentlich die Festtage zu verbringen gedenke?
Ich antworte irgendetwas von Bekannten in Yuncheng und von dem mysteriösen Gebilde auf der Karte, das ich vorher noch erkunden müsse, doch zu meiner Überraschung unterbricht er mich sofort. »Du meinst wahrscheinlich den Gufeng Shan!«, sagt er. »Der ist nicht weit von hier, genau südlich von Wanrong.«
Gufeng Shan, das heißt so viel wie »Berg des einsamen Gipfels«. Also hat Xiaohei doch recht gehabt, und das mysteriöse Gebilde ist mitnichten ein Krater, sondern eine riesige, aus der Schneelandschaft ragende Kuppe!
Doch als ich am nächsten Tag den Ort Wanrong hinter mir lasse, ist da erst mal kein
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