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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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sich die Leute darüber, was für schöne Zeichen er schreibt.
    »China ist wunderbar!«, sage ich und drehe mich zu Ke’er um, doch die ist gerade in ihr Handy vertieft und schenkt mir nur einen verwirrten Blick.
    Während der nächsten Tage machen wir zusammen Sightseeing, und Ke’er zeigt sich als ebenso geduldige wie unermüdliche Fremdenführerin. Der mit Abstand bemerkenswerteste Ort ist der Tempel am Geburtsort des Guan Yu, eines der drei Helden, die ich im Pfirsichhain von Zhuozhou kennengelernt habe. Die Gebäude dort sind zwar nicht sehr alt und auch nicht sehr spektakulär, doch es gibt ein verdorrtes Bäumlein, von dem es heißt, es sei bereits zweitausend Jahre alt. Ob Guan Yu damals diesen Baum gesehen hat? Ich lege eine Hand auf die knorrige Rinde und stelle mir vor, dass er einst vielleicht durch die gleichen Landschaften gereist ist wie ich: vom Pfirsichhain durch das Flachland von Hebei, über die Bergketten bei Yangquan, durch die Hochebene von Shanxi. Der Staub hat sich wahrscheinlich in den Jahrhunderten seither nicht viel geändert, nur die Namen und die Bauwerke sind neu. Und der junge Mann von damals ist mittlerweile ein Gott.
    Als wir mit dem Taxi in die Stadt zurückfahren, fällt mir einekleine Statue auf dem Armaturenbrett auf. Sie ist rot und golden, hat einen Bart und eine Hellebarde. »Guan Yu?«, frage ich, und Ke’er und der Taxifahrer fangen beide an zu lachen: Natürlich, wer sonst?!
    Am Abend des 6. Februar beginnt das Frühlingsfest. Ich bin glücklich, denn ich schleppe eine Tüte mit mir herum, in der sich ein Zehntausend-Schuss-Böller befindet, der die Verkäufer auf dem Markt vor der Brücke von Xinjiang stolz machen würde. Zuerst fahren wir zur Wohnung von Ke’ers Mutter, um dort ihren Bruder abzuholen. Er ist Anfang zwanzig, hat einen dünnen Bart und eine Vorliebe für Waffen und Tätowierungen. Als Ke’er ihm erzählt, dass ich gern fotografiere, läuft er in sein Zimmer und kommt mit einer mattschwarzen Machete wieder.
    »Die hat Blut gesehen«, verrät er mir mit verschwörerischer Stimme, und Ke’er und ihre Mutter verdrehen die Augen. Doch es bleibt keine Zeit, die Annehmlichkeiten der Wohnung zu genießen, denn kurz darauf sitzen wir schon wieder in einem Taxi.
    Und erst nach einer viertelstündigen Autofahrt, als wir in einem anderen Stadtteil vor einer anderen Wohnungstür stehen, um Ke’ers Vater zu treffen, verstehe ich, warum wir so viel unterwegs sind: Ihre Eltern machen gerade eine Scheidung durch.
    Die Großmutter öffnet die Tür und seufzt. »Er ist wieder im Bett.«
    »Meinem Vater geht es gerade nicht so gut«, flüstert mir Ke’er zu, und sie sieht plötzlich sehr blass und sehr unglücklich aus, ganz anders als das lebhafte Mädchen mit den bunt gefärbten Haaren und der perfekten Figur, das ich damals an der Filmakademie kennengelernt habe.
    Es dauert einen Moment, bis eine Tür aufgeht und ein Mann im grauen Schlafanzug erscheint. Während ich seine Hand schüttele, denke ich, dass er wirkt, als lebe er hinter Glas, so bedächtig sind seine Bewegungen, so leise ist seine Stimme. Sein Lieblingsthema scheint Tee zu sein. Er spricht von Anbaugebieten und Fermentationsprozessen, während er uns zur Begrüßungeinen Pu’er-Tee einschenkt. Als ich den Becher entgegennehme und die Lieblichkeit des Duftes lobe, hellt sich sein Gesicht kaum merklich auf, und ich bemerke, dass auch Ke’er ein bisschen entspannter aussieht.
    Die Wohnung ist gut eingerichtet, genau wie die der Mutter, und ich komme nicht umhin, ihn nach seinem Beruf zu fragen. »Meine Frau und ich handeln mit Tee«, sagt er lächelnd, und irgendwie überrascht mich das nicht. Er zündet sich eine Zigarette an, und gleich sieht er ein Stück weniger melancholisch aus.
    Wir böllern eine halbherzige Runde im Innenhof, dann verabschieden wir uns und fahren zurück zur Wohnung der Mutter. In der Küche ist schon alles vorbereitet, um die Jiaozi zu machen, die kleinen Teigtäschchen, die heute Abend gemeinsam gefüllt und verspeist werden müssen. Auch ich darf ein paar der hellen Teigscheiben mit der Füllung aus Schweinehack und Bärlauch bestreuen und mit der Hand zusammendrücken, doch bei mir sehen sie nicht so gut aus wie bei den anderen, und nicht wenige meiner Kreationen fallen beim Kochen auseinander.
    Um neun Uhr fängt draußen der Lärm des Feuerwerks an. Ich werde unruhig, doch Ke’ers Bruder winkt nur lässig ab und streckt sich auf der Couch aus: Bis Mitternacht ist noch

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