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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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eine helle Schicht Frost gebildet. Mein Blick fällt auf die leere Sprite-Flasche daneben im Schnee, und ich muss nicht lange überlegen.
    Zuerst klemme ich mir die Taschenlampe an die Stirn, dann drehe ich die Verschlusskappe auf. 1,25 Liter, das sollte reichen. Im schwankenden Licht der Taschenlampe sieht die kleine Öffnung aus wie ein widerwilliges Auge, doch darauf kann ich keine Rücksicht nehmen, denn wir wissen beide längst, dass es kein Zurück mehr gibt.
    Als ich fertig bin, halte ich die Flasche empor: ihr Füllstand ist zwar enttäuschend niedrig, aber wenigstens ist sie schön warm. Vielleicht sollte ich sie jetzt mit in den Schlafsack nehmen , denke ich, doch dann stelle ich sie wieder im Zelteingang in den Schnee.

KRIEGSGEBIET
    Mitten in der Tiefe der Nacht sickert eine unangenehme Erkenntnis in mein Bewusstsein: Irgendwo im Norden Chinas steht ein Zelt, und darin winde ich mich und zittere vor Kälte, und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. An Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Doch wenn ich versuchen würde aufzustehen, würde ich wahrscheinlich dort draußen erfrieren. Oder ist das übertrieben? Wie kalt kann es in diesem Teil des Landes werden – minus zwanzig, minus fünfundzwanzig Grad?
    Ich schalte mein Handy ein und starre in sein bläuliches Licht: keine neuen Nachrichten. Eine Mitteilung geht an Juli: Mir ist gerade ein bisschen kalt, und ich vermisse dich. Dann noch eine, diesmal an Ke’er: Bin in ein paar Tagen da. Das Display erlischt, und sein helles Rechteck tanzt noch ein paar Momente vor meinen Augen herum, bis es sich in den Kringeln und Punkten auflöst, die die Dunkelheit bevölkern.
    Ich versuche mir die Farben der Dinge vorzustellen: Mein Daunenschlafsack ist orange, mein Kunststoffschlafsack ist blau, das Zelt ist von innen gelb und von außen grün, und mein Rucksack ist dunkelrot. Ich habe eine braune Hose an und beige Socken.
    Draußen dröhnt die Schwärze der Nacht.
    Als es endlich wieder hell wird, krieche ich aus meinem Schlafsack und strecke mich vorsichtig in den Morgen. Mit klammen Fingern putze ich mir die Zähne, dann atme ich tief ein und stecke meine Füße in die vereisten Schuhe. Zelten nervt.
    Mein Blick fällt auf die Sprite-Flasche: Sie lehnt noch immer genau so im Schnee, wie ich sie nach unserem letzten Stelldichein zurückgelassen habe. Ich halte sie gegen das Sonnenlicht und bemerke mit dümmlicher Überraschung, dass ihr Inhalt gefroren ist. Natürlich! Und jetzt? Ausschütten geht nicht, Liegen lassen wäre Umweltverschmutzung. Mitnehmen?
    Die nächsten paar Stunden laufe ich hungrig und durstig durch die Winterlandschaft, mit meinen kalten Füßen in meinen gefrorenen Stiefeln, und dabei könnte ich umfallen vor Müdigkeit. Aber das Schlimmste ist etwas ganz anderes: Das Schlimmste ist die Scham. Was für ein toller Wanderer ich nur bin! In der Nacht wäre ich fast erfroren, seit gestern Abend habe ich Hunger, und zu trinken habe ich auch nichts mehr. Aber eine Flasche gefrorener Pisse herumschleppen, wirklich super!
    DEUTSCHER WANDERER IN CHINA ERFROREN – FLASCHE MIT EIGENURIN WIRFT FRAGEN AUF!
    In dem Ort Linyi finde ich ein geheiztes Hotel, und sofort ist das ganze Zimmer über und über mit kalt müffelnden Zeltplanen und feuchten Schlafsäcken behängt. Dann nehme ich eine lange heiße Dusche und wickele mich in zwei Decken. Draußen unter dem Fenster machen die Leute ihre Besorgungen für das Frühlingsfest. Alle Gebäude sind schon rot dekoriert. Ich bestelle eine Portion scharf angebratenes Erdnusshuhn mit viel Chili. Es brennt zwar auf der Zunge, aber mir ist immer noch kalt. Im Fernsehen kommen Bilder vom Schneechaos in Südchina, wo die Winterstürme ganze Bahnhöfe lahmgelegt haben. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich keine Lust hätte, dort draußen herumlaufen zu müssen. Nur keine Kälte mehr! Kann es sein, dass der Körper sich daran erinnert, wenn ihm einmal so richtig kalt gewesen ist? Jedenfalls dauert es ewig und unzählige Tassen heißen Tee, bis ich endlich merke, dass sich wieder so etwas wie Wärme in mir ausbreitet. Und ich freue mich auf Yuncheng.
    Als ich einen Tag später, am Abend des dritten Februar, endlich bei ihr in Yuncheng eintreffe, will Ke’er gar nicht mehr aufhören zu lachen. Besonders meine Haare und mein Bart haben es ihr angetan: »Du siehst wirklich aus wie A Gan!«, ruft sie und klatscht begeistert in die Hände, während ich still vor mich hinstinke. Sie hat sich schick gemacht:

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