The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
dunkles Make-up, hochgesteckte Haare, ein Halskettchen, das verheißungsvoll in ihremAusschnitt verschwindet. Ich weiche ihrer Umarmung aus, denn an meinem Körper kleben noch der Schweiß und der Staub der letzten dreißig Kilometer.
Im Hotelzimmer gibt sie mir zwei Minuten Zeit, um mein Gesicht zu waschen, dann müssen wir los, denn ihre Freunde warten bereits in irgendeinem Restaurant auf uns. Meinen Protest, dass ich eigentlich vorher noch gern duschen würde, strahlt sie einfach weg.
Im Restaurant sitzt bereits eine Runde zusammen, und es gibt ein großes Hallo, als wir hereinkommen. Ich lerne ihre beste Freundin kennen, die unglaublich laut und viel spricht, und dann einen Dicken, der anscheinend soeben erst aus dem Gefängnis entlassen worden ist (»Und wie war es da drin?« – »Langweilig«).
Nach dem Essen bringt Ke’er mich auf mein Zimmer. Sie hat einen Schwips und möchte unbedingt noch Fotos von meiner Reise sehen. Als ich ihr erkläre, dass ich jetzt vor allen Dingen eine Dusche benötige, setzt sie sich auf die Bettkante, fängt an, mit ihrem Handy herumzuspielen, und winkt mich mit einer ungeduldigen Geste ins Badezimmer hinüber.
Das Wasser ist lauwarm.
Beim Abtrocknen höre ich aus dem Zimmer ihre Stimme. »Moment!«, rufe ich und wickele mir ein Handtuch um die Hüfte. Sie deutet auf den kleinen Bären an meinem Rucksack. »Ist der von ihr?«
Ich nicke.
Der Bär war Julis Weihnachtsgeschenk. Nachdem wir uns in Pingyao voneinander verabschiedet hatten, schlich ich in die Stille meines Hotelzimmers zurück und saß dort eine Weile untätig herum. Dann öffnete ich ihr Päckchen: Es enthielt eine Karte, die mich ungezählte Male als »dummes Ei« bezeichnete, und darunter lag ein kleiner Stoffbär. Er hatte die Arme ausgebreitet, und an seinem Ohr befand sich ein Waschzettel, auf dem ein deutscher Markenname und Made in China stand. Daneben hatte Juli ein Smiley und ein Herz gemalt.
Doch das alles erzähle ich Ke’er nicht. Ich nicke nur.
»Süß«, befindet sie.
Dann zeigt sie auf meinen Bauch und bläst in gespielter Trübsal die Wangen auf. »Du hast abgenommen. Meinst du, ich sollte auch so eine Wanderung machen?«
»Du? Auf keinen Fall!« Ich lasse mich neben sie auf das Bett fallen und umfasse ihre Taille: »Guck, wie schlank du jetzt schon bist!«
Einen kurzen Moment lang bewegt sie sich nicht, und ich kann sehen, wie sich ihre Brüste mit jedem Atemzug heben und senken. Ihre Halskette glitzert. Meine Hände gleiten nach oben.
»Wei!« Sie stößt mich von sich. Eine Weile blickt sie mich ausdruckslos an, und dann sagt sie leise: »Du wolltest dich doch ändern!«
Doch sie bleibt. Auch als ich wieder näher an sie heranrücke und mit den Fingern an ihrem Halskettchen entlangfahre, bewegt sie sich nicht. Die Haut an ihrem Hals ist glatt und weich, und sie duftet. Ich schiebe eine Hand in ihren BH.
Doch dann ist der Moment vorbei.
»Hör auf«, flüstert sie und erhebt sich. Nur ein leises Rascheln ist zu hören, als sie ihre Kleidung wieder zurechtrückt, dann klacken ihre Schuhe durch den Raum. Sie blickt sich noch einmal um, dann fällt die Tür mit einem Schnappen hinter ihr ins Schloss.
Am nächsten Morgen klopft es wieder, und Ke’er steht da und lacht mich an, als wäre nie etwas gewesen. Gestern hat sie mir versprochen, mit mir zur Post zu fahren, und das machen wir jetzt auch. Ich will Briefe mit Bildern an all diejenigen Leute schicken, die ich in den letzten Wochen fotografiert habe. Tante Hu. Opa Liu. Ein kleines Kind, das bei meinem Anblick furchtbar geweint hat.
Doch als wir bei der Post ankommen und ich meine Briefe abgebe, wird einer unter großem Gestaune unter den Beamten herumgereicht. Es ist derjenige, den ich an Meister Yan schickenmöchte, und es geht anscheinend um den Umschlag. »Wer hat das geschrieben?«, fragt einer von ihnen und zeigt mit dem Finger auf die Adresse, die ich auf den Umschlag geklebt habe.
»Die Adresse? Die hat Meister Yan selbst geschrieben«, antworte ich, »ich habe sie nur aufgeklebt. Ist etwas nicht in Ordnung?«
Der Postbeamte lacht: »Ist dir die wundervolle Kalligrafie nicht aufgefallen?«
Ich muss lächeln. Vor meinem inneren Auge kann ich Meister Yan sehen, wie er in seiner Höhlenwohnung über den Tisch gebeugt steht und mit schwungvollen, entschlossenen Zügen seine Adresse für mich in einen Notizblock schreibt. Und hier, Wochen später, in einem grauen, staubigen Postamt Hunderte Kilometer entfernt, hier freuen
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